Daten aus England zeigen: 2020 haben mehr heterosexuelle Menschen eine HIV-Diagnose erhalten als schwule und bisexuelle Männer. Foto: ©iStock.com/utah778
Daten aus England zeigen: 2020 haben mehr heterosexuelle Menschen eine HIV-Diagnose erhalten als schwule und bisexuelle Männer. Foto: ©iStock.com/utah778

Welt-AIDS-Tag: „Die Werkzeuge sind vorhanden.“

UNAIDS, das AIDS-Programm der Vereinten Nationen, möchte bis zum Jahr 2020 die so genannten 90-90-90-Ziele erreichen: 90 Prozent aller Betroffenen kennen ihre HIV-Diagnose. 90 Prozent der Menschen mit einer Diagnose erhalten eine antiretrovirale Therapie. 90 Prozent der Menschen mit einer HIV-Therapie haben eine Viruslast unter der Nachweisgrenze. Die Pharma Fakten-Redaktion hat anlässlich des Welt-AIDS-Tages zum 1. Dezember mit dem Arzt und AIDS-Forscher Prof. Dr. Jürgen Rockstroh über Erfolge und Schwierigkeiten dieser Strategie gesprochen.

Herr Prof. Rockstroh, wie weit sind wir in Deutschland noch vom 90-90-90-Ziel entfernt?

Prof. Dr. Jürgen Rockstroh: Im Jahr 2017 waren nach Schätzungen des Robert Koch Instituts nur knapp 87 Prozent aller Menschen, die HIV haben, diagnostiziert. Es bleiben also mehr als 13 Prozent, die mit HIV infiziert sind, aber nichts davon wissen. 92 Prozent der Diagnostizierten erhalten bislang eine antiretrovirale Therapie. Und, was wirklich hervorragend klappt: 95 Prozent derjenigen, die eine Therapie erhalten, liegen unter der Nachweisgrenze. Wenn wir von dem 90-90-90-Ziel ausgehen, dann sollten 73 Prozent aller Infizierten eine Viruslast unter der Nachweisgrenze haben. In Deutschland haben wir dieses Ziel 2017 erstmals erreicht. Ich halte es für realistisch, bis 2020 auch bei der ersten 90 die fehlenden Prozente in Deutschland noch zu erreichen.

Die größte Hürde besteht also in der Diagnosestellung?

Rockstroh: So ist es. Sobald jemand diagnostiziert ist, gibt es gute Behandlungsmöglichkeiten. Dazu trägt auch eine geänderte Therapieleitlinie bei: Man wartet heute nicht mehr ab, bis die Zahl der Helferzellen unter einen bestimmten Wert sinkt, sondern beginnt sofort mit der Behandlung. Die zweite und dritte 90 sind also einfacher geworden, aber es bleibt das Problem, die zu finden, die eine HIV-Infektion haben. Das ist in Deutschland schwierig.

Woran liegt das?

Rockstroh: Zum einen daran, dass wir keine Kliniken haben, die sich speziell mit sexueller Gesundheit beschäftigen – im Gegensatz zu England, wo es Sexual Health Clinics gibt. Und auch die Haus- und Fachärzte machen viel zu wenig Sexualanamnese. Wenn ein junger Mann mit einer Gürtelrose in die Praxis kommt, müsste man ihn nach seinem Sexualverhalten fragen – denn eine Gürtelrose ist Zeichen einer Immunschwäche. Fast alle HIV-Patienten, die ich sehe, sind irgendwann beim Arzt gewesen – mit einer Gürtelrose, mit Feigwarzen im Analbereich, mit einer Thrombopenie, also einem Mangel an Blutplättchen. Und kein Arzt hat ihnen einen HIV-Test empfohlen. Das bleibt für uns eine große Herausforderung, alle Arztkreise zu motivieren, auch an eine mögliche HIV-Infektion zu denken.

Auch bei heterosexuellen Patienten?

HIV-Experte Prof. Jürgen Rockstroh
HIV-Experte Prof. Jürgen Rockstroh

Rockstroh: Natürlich. Viele Menschen glauben, wenn sie weder schwul noch drogenabhängig sind, würde sie das vor HIV schützen. Dabei vergessen wir, dass 15 Prozent der Infektionen Frauen betreffen. Ich plädiere deshalb dafür, bei bestimmten Erkrankungen, die auf HIV hinweisen könnten, immer einen HIV-Test zu machen – etwa bei einer Virus-Hepatitis, einem Non-Hodgkin-Lymphom, bei Zervix- und Analkarzinomen, einer Gürtelrose. Studien haben gezeigt: Bei all diesen so genannten Indikator-Erkrankungen liegt der HIV-Anteil bei über 0,1 Prozent – damit ist der Test kosteneffektiv.

Was halten Sie von der so genannten Prä-Expositionsprophylaxe, kurz PrEP?

Rockstroh: Sie könnte wesentlich dazu beitragen, die 90-90-90-Ziele zu erreichen. PrEP bedeutet: Menschen mit erhöhtem HIV-Risiko nehmen vorbeugend bestimmte HIV-Medikamente ein. Zwei große europäische Studien dazu haben gezeigt: Schon weniger als 20 PrEP-Anwender genügen, um eine neue Infektion zu verhindern. Frankreich hat deshalb die PrEP bereits eingeführt. Das hat zwei Auswirkungen: Man verhindert Neuinfektionen. Und mehr Menschen lassen einen HIV-Test machen, denn um an PrEP teilnehmen zu können, muss man sich regelmäßig testen lassen.

Gibt es PrEP auch in Deutschland?

Rockstroh: Ja, aber die Kosten müssen derzeit noch von den Menschen getragen werden, die das einnehmen. Das soll sich aber bald ändern: Im Entwurf zum geplanten Terminservice- und Versorgungsgesetz TSVG heißt es, dass die PrEP künftig von den Kassen erstattet werden soll.

Seit einiger Zeit gibt es die Möglichkeit, einen HIV-Heimtest zu machen.

Rockstroh: Auch das könnte uns weiter bringen. Denn damit geben wir auch Leuten eine Chance, die Angst haben, das Thema beim Arzt anzusprechen.

Es gab auch Kritik an der 90-90-90-Strategie: Sie sei zu technokratisch auf Zahlen konzentriert, die sich überdies nicht in allen Ländern erreichen lassen.

Rockstroh: Man darf nicht vergessen, dass eine so klar formulierte Strategie einen großen Einfluss auf das politische Geschehen hat. Es ist eine weltweite Eliminationsstrategie und viele Länder haben sich bereit erklärt, das umzusetzen. Wenn man keine ehrgeizigen Ziele formuliert verändert sich auch nichts. Außerdem hat sich gezeigt: Die 90-90-90-Ziele sind in vielen Ländern sehr wohl zu erreichen, auch in afrikanischen Ländern.

In Botswana und Kambodscha sind die Ziele bereits erreicht. Was können wir von diesen Ländern lernen?

Rockstroh: Wichtig ist die Erkenntnis: „Wir haben ein Problem und wir wollen etwas dagegen unternehmen.“ Das kann man nur in einer Atmosphäre der Entstigmatisierung machen – und indem man Therapieprogramme etabliert. In Kambodscha gibt es extrem gute Therapieprogramme.

Warum nehmen die Neuinfektionen in Afrika ab, während sie in Russland und der Ukraine zunehmen?

Rockstroh: Osteuropa ist die weltweit einzige Region, in der wir eine Zunahme von Neuinfektionen verzeichnen. Das liegt zum einen daran, dass Menschen mit HIV sich aus Angst vor Ausgrenzung nicht in Behandlung begeben. Hinzu kommt die schlechte Versorgung mit HIV-Medikamenten.

Welchen Einfluss hatte 90-90-90 auf die HIV-Forschung?

Rockstroh: Diese Strategie hat zu einer besseren epidemiologischen Datenerhebung geführt, in der EU und auch in größeren WHO-Regionen. Studien haben seither gezeigt: Wenn man frühzeitig behandelt wird, noch bevor überhaupt eine Immunschwäche eintritt, ist das mit einem klaren Vorteil verbunden. Es gibt weniger AIDS-Komplikationen, insbesondere Tuberkulose, aber es gibt auch deutlich weniger Krebs bei Menschen, die schon kurz nach der Diagnose unter einer HIV-Therapie stehen. Heute wird deshalb empfohlen, nach der Diagnose sofort mit einer solchen Therapie zu beginnen. Dadurch kann sich auch keiner mehr anstecken.

HIV-Experte Prof. Jürgen Rockstroh
HIV-Experte Prof. Jürgen Rockstroh

Auch die HIV-Therapie selbst hat sich seit 2014 noch einmal deutlich verändert, nämlich durch die Einführung von Integrase-Hemmern. Heute umfasst die Therapie zumeist nur noch eine Tablette pro Tag. Außerdem sind Integrase-Hemmer besser verträglich als die Medikamente, die wir davor hatten. Momentan konzentriert sich die Forschung auf neue Substanzklassen für Menschen, die Resistenzen entwickelt haben, die also auf neue Wirkmechanismen angewiesen sind. Und dann gibt es den Versuch, ganz neue Konzepte zu entwickeln – etwa durch die Gabe von Substanzen, die nur alle 8 Wochen intramuskulär gespritzt werden. HIV-Patienten müssen also gar keine Tabletten mehr schlucken, sondern können alle acht Wochen zum Arzt gehen und bekommen dort eine Spritze in den Po. Das ist ideal für Menschen, die nicht jeden Tag an die Tablette denken wollen. Bestimmte Leute finden das super – es gibt erstaunlich viele Studienteilnehmer, die davon wirklich begeistert sind. Und schließlich: Wir kommen demnächst vielleicht sogar mit zwei Wirkstoffen hin, statt bisher drei. Das hat natürlich positive Folgen für Langzeit-Nebenwirkungen, aber auch für die Kosten.

Ist das Ziel von UNAIDS realistisch, die HIV-Epidemie bis 2030 zu stoppen?

Rockstroh: Ich halte es schon für realistisch, wenn alle vorhandenen Werkzeuge eingesetzt werden: Heimtest, PrEP, HIV-Therapien für alle, die eine Diagnose haben, außerdem Entstigmatisierung und Entkriminalisierung – das ist alles möglich. Leider leben wir heute in Zeiten, in denen rechtspopulistische Züge zunehmen und das Verständnis für andere Lebensformen eher abnimmt. Ich habe nicht das Gefühl, dass die Gesellschaftspolitik in Ländern wie Russland, Ukraine, Türkei ein Umfeld schafft, das HIV eindämmen könnte. Aber ich glaube schon, dass es in mindestens der Hälfte der Länder klappen wird. Die Frage ist: Wird es irgendwann weltweit zu einem Wandel in bestimmten politischen Grundhaltungen kommen? Grundsätzlich sind die Werkzeuge für eine Beendigung der AIDS-Epidemie vorhanden – aber ich befürchte, dass das politische Umfeld, in dem das realisierbar ist, bis 2030 nicht geschaffen werden wird.

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