Bei AETIONOMY revolutioniert Big Data die Alzheimer-Forschung

Diagnose: Alzheimer. Ursache: unbekannt. Auch mehr als 100 Jahre nach der ersten Beschreibung der Erkrankung gibt es nur Vermutungen, wie es zu den verheerenden Schädigungen des Gehirns kommt. Dasselbe gilt für Parkinson. Beide Krankheiten sind weiterhin unheilbar. Erste Wirkstoffe sind in der letzten Phase klinischer Studien aber die Forschung geht nur langsam voran. Doch das könnte sich bald ändern. Seit Januar 2014 läuft im Rahmen der EU-finanzierten Innovative Medicines Initiative (IMI) ein fünfjähriges Projekt, das für eine Revolution in der Forschung sorgen könnte: AETIONOMY.

Die Lage ist brisant: Schon heute leiden weltweit etwa 47 Millionen vor allem ältere Menschen an einer Demenz, rund zwei Drittel von ihnen sind von der häufigsten Erkrankungsform Alzheimer betroffen. Mit steigender Lebenserwartung könnte sich die Zahl der Erkrankten bis zum Jahr 2050 verdreifachen. Gleichzeitig leiden etwa vier bis sechs Millionen Menschen weltweit an Parkinson, auch hier ist die Tendenz steigend. Die unheilbaren Gehirnerkrankungen stellen eine erhebliche Belastung für die Betroffenen, die Angehörigen und angesichts des demografischen Wandels auch der Gesundheits- und Sozialsysteme dar. Das hat die WHO erkannt und stufte die Demenz schon 2012 zum globalen Krisenfall hoch.

 

Gleichzeitig ist die Forschung an neuen Wirkstoffen ein Risikounternehmen für die Pharmaindustrie. Billionen Euros wurden bereits in die Forschung investiert. Auf einen Durchbruch warten Unternehmen, Ärzte und Patienten jedoch weiterhin. Einer der Hauptgründe dafür liegt – darüber herrscht heute weitgehend Konsens – in der Klassifikation der Erkrankungen. AETIONOMY widmet sich genau diesem Problem und könnte damit der gesamten Forschung und Entwicklung neuen Antrieb geben.

Alzheimer und Parkinson müssen neu gedacht werden

Zwei Patienten, dieselbe Diagnose, dieselben Symptome und dennoch: Der verabreichte Wirkstoff schlägt nur bei einem von ihnen an – ein Szenario, das bei Alzheimer und Parkinson keine Seltenheit ist. Der Grund dafür ist, dass die Vorgänge im Körper, die einem Symptom zu Grunde liegen, von Patient zu Patient verschieden sein können. Alzheimer ist eben nicht Alzheimer, Parkinson nicht Parkinson. Dass die bisherigen symptombasierten Klassifikationen zu kurz greifen, gehört längst zum wissenschaftlichen Konsens.

„Die Klassifikation, mit der wir Demenzerkrankungen heute diagnostizieren, geht auf die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück und wird noch immer allein durch die klinischen Erscheinungsformen getrieben. Sie ignoriert, dass wir das Humangenom inzwischen sequenziert haben und damit die letzten 30 bis 40 Jahre Molekularbiologie“, erläutert Prof. Dr. Martin Hofmann-Apitius vom Fraunhofer-Institut für Algorithmen und Wissenschaftliches Rechnen, einer der beiden Projektleiter von AETIONOMY.

 

„Wir müssen weg von den klinischen Symptomen und uns auf die molekulare oder zellulare Ebene konzentrieren. Denn dort entstehen die Krankheiten und dort können wir sie behandeln beziehungsweise ihnen vorbeugen.“ Um sie zu verstehen, müssen die Krankheiten also neu gedacht werden, und zwar ansetzend bei den ihr zu Grunde liegenden Mechanismen. Das Problem: Noch sind diese Vorgänge im Körper nur in Ansätzen bekannt. Wir wissen lediglich, dass bei der Entstehung von Alzheimer und Parkinson verschiedene Ursachen zusammenkommen, die in bestimmten kausalen Verbindungen zueinander stehen.

Genau hier setzt AETIONOMY an. Innerhalb von fünf Jahren will das Projekt die krankheitsverursachenden Mechanismen identifizieren und so den Weg für eine neue Mechanismus-basierte Taxonomie (Klassifizierung) der neurodegenerativen Erkrankungen ebnen. „Das Thema ist eng mit der Identifizierung von Patienten-Subgruppen verbunden“, fügt Hofmann-Apitius hinzu. „Denn wenn wir die Mechanismen verstehen und zum Beispiel die 25 Wege kennen, wie Alzheimer entstehen kann, dann können wir die Patienten danach klassifizieren und entsprechend individuell therapieren. Natürlich würden sich auch für die Prävention ganz neue Möglichkeiten eröffnen.“

Alle Informationen sind bereits vorhanden

AETIONOMY stellt sich dieser Herausforderung mit einem Big-Data-Ansatz. Die Grundannahme ist, dass die Informationen für eine Reklassifizierung längst vorhanden sind. Nur liegen sie bisher verteilt in Bibliotheken, Unternehmen und Kliniken, bei Ärzte- und Patientenverbänden. Im Rahmen des Projektes sollen nun alle verfügbaren Informationen, inklusive klinischer, bildgebender und genetischer Daten, gesammelt, validiert, dynamisch organisiert und zu einer neuen Wissensbasis verknüpft werden. Durch die Modellierung komplexer biomedizinischer Vorgänge sollen dann Zusammenhänge sichtbar gemacht werden, die Aufschluss über die krankheitsverursachenden Zusammenhänge geben.

 

„Dafür benutzen wir eine spezielle Modellierungssprache namens BEL; eine Syntax, die speziell darauf abgestellt ist, korrelative und Kausalzusammenhänge zwischen Daten aller Typen abzubilden“, erklärt Hofmann-Apitius. Auf diese Art und Weise sollen Muster identifiziert und Krankheitsmechanismen ausfindig gemacht werden. „Derzeit bauen wir einen Server mit zugehöriger Web-Oberfläche auf, die es Medizinern und Forschern aus aller Welt ermöglichen wird, ihre Datensätze per Mausklick auf mechanistische Zusammenhänge prüfen zu lassen.“

Eine neue Forschungsgrundlage für alle

Die im Verlauf von AETIONOMY entstehende Wissensbasis wird allen forschenden Institutionen und Unternehmen zur Verfügung gestellt. Am Ende von AETIONOMY profitieren also alle: Die Wissenschaft erhält eine neue Wissensgrundlage für die weitere Forschung, die Pharmaindustrie kann Medikamente zielgerichteter für bestimmte Patientengruppen entwickeln und für die Patienten erhöht sich die Chance auf eine wirksame Therapie. Die größte Hoffnung ist, dass Möglichkeiten zur Alzheimerprävention gefunden werden und damit ein Weg heraus aus dem globalen Krisenfall Demenz.

Über das Projekt

AETIONOMY („Organising Knowledge about Neurodegenerative Disease Mechanisms for the Improvement of Drug Development and Therapy“) ist ein auf fünf Jahre angelegtes Projekt der IMI, einer gemeinsamen Initiative von Europäischer Kommission und Pharmaindustrie. Das Projekt läuft seit Januar 2014. Beteiligt sind 17 Akteure aus elf Ländern, darunter biotechnologische Einrichtungen, international renommierte Forschungsinstitute, Universitäten und Kliniken. Das Konsortium steht unter der Leitung von UCB Pharma und dem Fraunhofer-Institut fu?r Algorithmen und Wissenschaftliches Rechnen SCAI. Das Gesamtvolumen der Förderung für dieses Projekt beträgt 17,8 Millionen Euro.

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