© Pharma Fakten e.V.
© Pharma Fakten e.V.

„Krank durch Medikamente“ ist nichts für schwache Nerven

Grundsätzlich ist es gut, wenn ein Buch geschrieben wird, das die „Übermedikalisierung“ zum Thema macht – und damit das unreflektierte Einnehmen von Arzneimitteln. So wichtig das Thema ist, so streitbar ist die Ausführung in Cornelia Stolzes neuem Buch. „Krank durch Medikamente“ ist seit zwei Wochen auf dem Markt.

Zunächst unterscheidet sich das Buch nicht von allem, was zu diesem Thema schon veröffentlicht wurde; es sind seit Jahren immer wieder Präparate, die als Beispiel dafür herhalten müssen, was alles angeblich schief läuft beim „Siegeszug der Pharmazie“ (Stolze). Ob Vioxx, Avandia oder Lipobay – sie gelten als Beispiele, wie aus Patienten „Opfer der pharmazeutischen Industrie“ werden.

Die Frage ist: Wieviel Nutzen? Wieviel Risiko?

Keine Enthüllung sondern bittere Wahrheit ist: Arzneimittel können scheitern, sie können versagen und sie können Patienten schädigen. Deshalb ist ihre Einnahme immer eine Abwägung: Überwiegt der Nutzen das Risiko? Leider kommt es auch vor, dass Präparate, die in den Zulassungsstudien noch ohne Verdacht waren, Jahre später vom Markt genommen werden müssen. Der Grund: Signale für manche Folgen zeigen sich oft erst in großen Patientengruppen – also in der täglichen Anwendung – und damit nach der Zulassung.

Absturzkandidaten?

Wie heikel da voreilige Schlüsse sind, zeigt sich in Stolzes Prophezeiung zu den „nächsten Absturzkandidaten“: Dies könnten die neuen Blutgerinnungshemmer sein, schreibt sie – gemeint sind hier die neuen oralen Antikoagulantien, kurz: NOAKs. Es mehrten „sich die Hinweise, dass die Mittel schwere Blutungen verursachen können“. Dazu muss man wissen: Gerinnungshemmer werden eingesetzt, damit das Blut fließt: Sie helfen, lebensbedrohliche Blutgerinsel zu vermeiden und sind deshalb wirksame Medikamente, um Herzinfarkten oder Schlaganfällen vorzubeugen.

Ihr Wirkprinzip bestimmt auch ihr Risikoprofil: Blutungen sind die häufigsten Nebenwirkungen; weil sie tun, was sie sollen, steigt auch das Blutungsrisiko. Grundsätzlich gilt: Der Einsatz von Gerinnungshemmern ist immer eine Abwägung zwischen der Reduktion des Herzinfarkts- oder Schlaganfallrisikos auf der einen und dem erhöhten Blutungsrisiko auf der anderen Seite.

Die NOAK sind hochwirksame Medikamente. Das gilt zwar auch für die „klassischen“ Gerinnungsmittel wie die Vitamin-K-Antagonisten Marcumar oder Warfarin. Diesen werden aber zahlreiche Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln und Nahrungsmitteln zugewiesen. Auch muss die Blutgerinnung regelmäßig kontrolliert werden.

Inzwischen wächst die Studienlage und damit die Evidenz, was diese Präparate können. Eine Meta-Analyse, die Daten von über 70.000 Probanden berücksichtigt, zeigt: Die Patienten unter NOAKs hatten im Vergleich zum „Klassiker“ Warfarin ein um 19 Prozent reduziertes Risiko, einen Schlaganfall oder eine Embolie (Verschluss eines Blutgefäßes) zu erleiden. Dabei war das Risiko schwerer Blutungen vergleichbar; gegenüber den nicht korrekt eingestellten Patienten unter Warfarin sogar geringer. Kurz: Mehr Nutzen bei gleichem oder sogar geringerem Risiko – so ungefähr lassen sich Stolzes „Absturzkandidaten“ beschreiben. Es ist nicht die einzige Metaanalyse, die das günstige Nutzen-Risiko-Profil dieser Mittel beschreibt.

Ein US-Rechtsstreit als Beleg?

Als „Beleg“, dass mit diesen relativ neuen Produkten etwas nicht stimmen kann, gilt der Autorin offenbar die Tatsache, dass Boehringer Ingelheim sich im Zusammenhang mit den Vorwürfen in den USA zu einem Vergleich entschlossen und insgesamt fast eine halbe Milliarde Euro gezahlt hat. „Durch den Vergleich vermeidet Boehringer Ingelheim die Unsicherheiten eines langwierigen Rechtsstreites“, so die Begründung des Unternehmens. Denn: Diese Schadenersatzklagen sagen in der Regel viel über das US-Rechtssystem aus. Als Hinweis dafür, dass in einem Unternehmen etwas nicht mit rechten Dingen zugeht, taugen sie nicht.

Überhaupt ist Stolze nicht immer auf dem letzten Stand der Entwicklung. Etwa, wenn es um die geschlechtsspezifische Auslegung klinischer Studien geht. Ein Großteil der zugelassenen Studien beruhe ausschließlich auf männlichen Probanden, schreibt sie, und unterschlägt, dass dies längst geändert wurde. Die Mittel, die heute das Gros der Verordnungen prägen, wurden entweder schon während Phase II und III, spätestens aber in Phase IV-Studien sowohl mit Männern als auch mit Frauen getestet.

Gleiche Dosis für Männer und Frauen – ein Skandal, der keiner ist

Auch Stolzes Behauptung, dass die Standarddosis bei Frauen häufig zu hoch sei, „weil die Patientinnen im Schnitt kleiner und leichter sind als ihre männlichen Leidensgenossen“, ist so nicht haltbar. Dafür gibt es zwar Beispiele, aber eben nur wenige. Das lässt sich übrigens auch in den öffentlich zugänglichen AMNOG-Dossiers nachlesen, denn die enthalten eine geschlechtsgetrennte Auswertung. Bei keinem Medikament, für das nicht ohnehin eine individuelle Dosiseinstellung erforderlich ist (z.B. Insulin), wurde festgestellt, dass eine geschlechtsspezifische Dosisanpassung notwendig wäre. Vielmehr war die gleiche Dosis für beide Geschlechter richtig. Für die richtige Dosisfindung ist viel entscheidender, ob jemand dick oder dünn ist oder ob er raucht oder nicht – die Frage des Geschlechts ist es eher nicht. Ein Wirkstoff, der nur an Männern getestet wäre, würde auch nur eine Zulassung für Männer bekommen.

Diese beiden Beispiele stellen stellvertretend das Dilemma von „Krank durch Medikamente“ dar. Am Ende bleibt ein verunsicherter Patient zurück, der niemandem mehr traut: Seinen Ärzten und Apothekern nicht, die ihn ordentlich behandeln und beraten sollen, den Behörden nicht, die vernünftig prüfen und kontrollieren sollen und der Industrie nicht, die mit Medikamenten seine Heilung ermöglichen soll.

Verwandte Nachrichten

Anmeldung: Abo des Pharma Fakten-Newsletters

Ich möchte per E-Mail News von Pharma Fakten erhalten: