Welchen Einfluss haben so genannte krankheitsmodifizierende Therapien auf den Verlauf der Multiplen Sklerose (MS)? Eine Studie aus Australien gibt Antworten. Foto: CC0 (Stencil)
Welchen Einfluss haben so genannte krankheitsmodifizierende Therapien auf den Verlauf der Multiplen Sklerose (MS)? Eine Studie aus Australien gibt Antworten. Foto: CC0 (Stencil)

Gesundheitssystem: Zu wenige Anreize für Innovationen

Wie lässt sich das Gesundheitswesen in Deutschland noch besser und effizienter gestalten? Zu dieser Frage hat die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. (vbw) den Zukunftsrat der Bayerischen Wirtschaft befragt. Herausgekommen ist die Studie „Gesundheit und Medizin – Herausforderungen und Chancen“.
EU-Gesundheitskommissar Vytenis Andriukaitis / © European Union 2018, Source: EC - Audiovisual Service, Photo: Lukasz Kobus
EU-Gesundheitskommissar Vytenis Andriukaitis / © European Union 2018, Source: EC – Audiovisual Service, Photo: Lukasz Kobus

Es war in einem Interview mit der Tageszeitung „Die Welt“, in dem der EU-Gesundheitskommissar Vytenis Andriukaitis der deutschen Gesundheitspolitik die Leviten las: Der Litauer, in seinem früheren Leben Herzchirurg, lobte dort zwar den im Allgemeinen sehr guten Zugang zu medizinischen Dienstleistungen und eine Versorgungsqualität, die im ambulanten und stationären Bereich „weit über dem EU-Durchschnitt“ liegt. Aber gemessen an den relativ hohen Ausgaben für Gesundheit und einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 80,7 Jahren, mit der Deutschland in der EU lediglich Platz 18 einnimmt, erklärte er: „Das bedeutet, dass in Deutschland die höchsten Gesundheitsausgaben nicht auch zur höchsten Lebenserwartung führen. Das ist bemerkenswert.“ Die EU-Bürger achteten zu wenig auf einen gesunden Lebensstil und auch die Prävention komme zu kurz. Außerdem findet Andriukaitis, „dass die Ressourcen im deutschen Gesundheitssystem effizienter eingesetzt werden sollten.“

Das müssen sie auch, wenn das Gesundheitssystem die Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte lösen will. Diese sind laut der Studie der vbw „Gesundheit und Medizin – Herausforderungen und Chancen“ definiert durch die Alterung der Bevölkerung und das veränderte Krankheitsspektrum, einen immer gravierender werdenden Fachkräftemangel und schließlich den medizinisch-technischen Fortschritt, schreibt Professor Wolfgang Herrmann, Präsident der Technischen Universität München im Vorwort: „Die Herausforderungen für das Gesundheitswesen liegen in der Sicherstellung einer solidarischen Gesundheitsversorgung.“ Dies könnte erreicht werden, indem Produktivität und Effizienz im System gesteigert werden, „insbesondere über den Einsatz neuer Technologien und die Stärkung der diesbezüglichen Anreizsysteme, auch im Hinblick auf die Prävention“, wie es in der Einleitung der Studie heißt.

vbw: Wenig Anreize dafür, die wirksamsten Therapien zu entwickeln

In Sachen Effizienz sieht die vbw also noch Luft nach oben. Sie stellt beispielsweise mit Blick auf Arzneimittel nüchtern fest: „Das Gesundheitssystem setzt heute zu wenig Anreize dafür, die wirksamsten Therapien zu entwickeln und zum Einsatz zu bringen.“ Die Zulassungsverfahren sind langwierig und komplex; im Vergleich zu anderen Ländern findet ein weniger intensiver Dialog mit den Zulassungsbehörden statt, schreiben die Gutachter. 

So funktioniert das AMNOG-Verfahren
So funktioniert das AMNOG-Verfahren

Vor dem Hintergrund der frühen Nutzenbewertung neuer Arzneimittel, das in Deutschland 2011 eingeführte AMNOG-Verfahren, ist das keine Marginalie. Die Autoren stellen zwar unmissverständlich fest: „Dass ein Zusatznutzen von innovativen Präparaten im Vergleich zur Standardtherapie nachgewiesen werden muss, ist richtig.“ Kritisiert wird aber die Umsetzung: Denn es müsse sichergestellt werden, dass nur Vergleichsprodukte als Referenz der Bewertung herangezogen werden, die auf den tatsächlichen Anwendungsfall passen und „nicht einfach irgendein Generikum, das ebenfalls zur Behandlung der fraglichen Krankheit eingesetzt wird.“  Der Vorwurf: Die Nutzenbewertung hat weniger die Versorgung der Menschen mit innovativen Produkten, sondern vor allem einen möglichst niedrigen Preis als Ziel; bei 70 Prozent der Verfahren, so die Studie, werden generische Vergleichstherapien angesetzt. Das Problem dabei: Der Preis eines Generikums, bei dem die Tagestherapiekosten schon mal im Cent-Bereich liegen können, ist dann Ausgangslage für Preisverhandlungen.

Für die forschende Unternehmen stellt sich damit zwangsläufig die Frage, wie sie ihre Investitionen für Forschung und Entwicklung finanzieren sollen; es kommt zu unüberbrückbaren Preisdifferenzen: „Die Konsequenz ist, dass neuentwickelte Produkte entweder gar nicht auf den Markt gebracht oder wieder vom Markt genommen werden. Im Ergebnis entstehen bei uns Lieferengpässe für das speziellere Präparat, und die Krankenkassen greifen im Einzelfall zum Import aus Nachbarstaaten.“ 

Gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen könnten innovationsfreundlicher sein

Das ist vor dem Hintergrund eines Gesundheitssystems, das den Anspruch formuliert, Patienten mit neuen Behandlungsmethoden versorgen zu wollen und vor dem Hintergrund des gleichzeitig stattfindenden Innovationsschubes, der in den nächsten Jahren ganz neue Behandlungsmöglichkeiten verspricht, ein nur mäßig gutes Zeugnis für das deutsche Gesundheitswesen. 

Deshalb wird in der Studie auch gefordert, dass Nutzenbewertung und Preisverhandlung voneinander getrennt werden sollten. Warum? „Heute ist bei den Erstattungspreisen für Innovationen mit nachgewiesenem Zusatznutzen der GKV-Spitzenverband Spieler, Schiedsrichter und Regelgeber in einem.“ Einigt man sich nicht, bleibt die Schiedsstelle. Funktioniert auch das nicht, kommt es in der Folge oftmals zu Marktrücknahmen. Fazit: „Wir müssen neue Wege für eine schnellere, transparentere und international gängige Abwicklung der Zulassungsverfahren finden.“ Soll heißen: Die gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen könnten innovationsfreundlicher sein.

Das Spannungsverhältnis: Kostenkontrolle vs. medizinischer Fortschritt

Die forschende Pharmaindustrie sehen die Gutachter deshalb in einem Spannungsverhältnis. Denn einerseits steht das Gesundheitssystem insgesamt vor der Herausforderung, die Kosten im Griff zu behalten – was die Fantasie beflügelt, immer neue Kostendämpfungsmaßnahmen zu etablieren. Das Ergebnis: „Das Erstattungssystem ist extrem komplex und von einer Vielzahl von gesundheitspolitischen Spargesetzen geprägt. Heute gibt es mehr als 30 verschiedene Markt- bzw. Preisregulierungsinstrumente im medizinischen Sektor, die teilweise kumulativ angewandt werden.“

Foto: CC0 (Stencil)
Foto: CC0 (Stencil)

Andererseits sollen innovative Therapien entwickelt und die zuverlässige Versorgung mit Medikamenten am Standort gesichert werden. Aber: „Gesundheitspolitische Dämpfungsmaßnahmen, etwa Preismoratorien oder Zwangsabschläge, dienen dem ersten Ziel (mit ungewissem Erfolg), schwächen aber zugleich die Wettbewerbsfähigkeit der Branche und behindern die Entwicklung innovativer Medikamente“, heißt es in der vbw-Studie. Sprich: Gesundheits-, Wirtschafts-, und Wissenschaftspolitik müssten nicht isoliert, sondern ganzheitlich betrachtet werden. 

Was fehlt: Ein umfassendes Health Technology Assessment

Das ist allerdings leichter gesagt als getan. Denn die vbw-Studie stellt als Manko fest, dass in Deutschland bis heute ein umfassendes Health Technology Assessment (HTA) fehlt – im Sinne einer Medizin-Technikfolgenabschätzung. „Andere Länder errechnen, was beispielsweise ein neues Medikament für das Gesundheitssystem insgesamt an Einsparungen bringen kann: ambulante statt stationärer Behandlung, Erhalt der Erwerbsfähigkeit etc.“ Das sektorale Denken hat schwerwiegende Folgen für die Preisbetrachtung: Das Preisschild eines neuen Medikamentes wird bewertet, ohne den gesamten Nutzen zu sehen. Ein Beispiel: Die Rate der Menschen, die nach einer Krebsdiagnose zur Arbeit zurückkehren können, hat sich durch neue Therapien auf über 75 Prozent gesteigert. Dies zeigen verschiedene Untersuchungen, die der europäische Pharmaverband EFPIA zusammengestellt hat. Soll heißen: Nur wer die Gesamtkosten im Blick hat, kann über den Preis einer Arzneimittelinnovation überhaupt ein Urteil fällen. Oder plakativer: So mancher „Mondpreis“ könnte sich bei dieser Betrachtung als ein echtes Schnäppchen erweisen – gesamtgesellschaftlich gedacht.

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