Stellen Sie sich vor  pro Tag stürzt in Deutschland ein mittelgroßes Passagierflugzeug ab – und niemand bemerkt es. So in etwa verhält es sich mit der Sepsis: Täglich sterben hierzulande 162 Menschen daran. Foto: CC0 (Stencil)
Stellen Sie sich vor pro Tag stürzt in Deutschland ein mittelgroßes Passagierflugzeug ab – und niemand bemerkt es. So in etwa verhält es sich mit der Sepsis: Täglich sterben hierzulande 162 Menschen daran. Foto: CC0 (Stencil)

Wissen ist Macht: Muss Sepsis tödlich sein?

Stellen Sie sich vor, pro Tag stürzt in Deutschland ein mittelgroßes Passagierflugzeug ab – und niemand bemerkt es. So in etwa verhält es sich mit der Sepsis, auch bekannt als Blutvergiftung: Täglich sterben hierzulande 162 Menschen daran; im Straßenverkehr sind es neun. Auf dem Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit (HSK) 2019 diskutierten Experten über die Frage: Muss Sepsis tödlich sein? Dabei zeigte sich: Der Einsatz von Big Data und Künstlicher Intelligenz könnte im Kampf gegen die unterschätzte Erkrankung neue Türen öffnen.

Es handelt sich um ein „schreckliches Krankheitsbild“, erklärte Prof. Dr. Michael Adamzik vom Uniklinikum Knappschaftskrankenhaus Bochum. „Sepsis entsteht immer dann, wenn Mikroorganismen wie etwa Viren, Bakterien und Pilze unseren Organismus befallen, dann das Immunsystem außer Kontrolle gerät und bei dieser Abwehrreaktion die körpereigenen Organsysteme mitangreift.“ Ursache kann eine sichtbar entzündete Wunde sein, aber auch eine Infektion wie z.B. eine Lungenentzündung. 

Bei der Sepsis gilt: Jede Sekunde zählt. Denn die Sepsis kann zu Schock, Multiorganversagen und Tod führen. Und das nicht zu selten: Sepsis ist nach dem Herzinfarkt die dritthäufigste Todesursache in Deutschland. 

In der Statistik taucht das nicht auf, weil hier nur die jeweiligen Grunderkrankungen aufgeführt sind. „140.000 Patienten erkranken in Deutschland jährlich an einer Sepsis“, so Adamzik. Etwa 59.000 davon versterben direkt; weitere 28.000 im ersten Jahr nach Entlassung aus dem Krankenhaus. Der Experte, der seit über 20 Jahren das Syndrom der Sepsis erforscht, beziffert den volkswirtschaftlichen Schaden der Erkrankung auf 7,7 Milliarden Euro. „Ich glaube, diese Zahlen sprechen für sich.“ 

Sepsis und die Langzeitfolgen

Wie verheerend die Sepsis ist, davon berichtete auch Dr. Stefanie Schmitz vom Institut für Versorgungsforschung der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See Bochum. In einer retrospektiven Studie mit Krankenkassendaten der Knappschaft haben sie und ihre Kollegen über 117.000 Sepsis-Patienten, die zwischen den Jahren 2009 und 2016 im Krankenhaus waren, untersucht – und in drei Schweregrade unterteilt: „Ich kann genau sehen, dass der septische Schock ein sehr hohes Mortalitätsrisiko im Krankenhaus birgt; im Schnitt liegt die Mortalität bei 66 Prozent. Die zweite Gruppe ist die Sepsis: Da habe ich immer noch ein hohes Sterberisiko mit etwa 31 Prozent im Schnitt. Und die dritte Gruppe, die mit schwerer Infektion ohne Organversagen, die haben eine Sterbewahrscheinlichkeit im Krankenhaus von 13 Prozent.“ 

Aber auch nach der Entlassung birgt Sepsis eine große Gefahr – besonders im ersten Jahr: „Von denen, die eine Sepsis oder einen septischen Schock hatten, und lebend aus dem Krankenhaus rauskommen, überleben 35 Prozent nicht“. Die Knappschaft-Daten zeigen auch: „Diejenigen, die nach der Krankenhausentlassung in die Reha kommen, haben eine signifikant höhere Überlebenswahrscheinlichkeit als diejenigen, die nach Hause verlegt werden.“ Schmitz appellierte daher: „Es muss bei der Sepsis noch viel stärker der Fokus darauf gelenkt werden, wie man die Nachsorge nachhaltig verbessern kann.“

Sepsis: ein unglaublich komplexes System

In den letzten 80 Jahren wurden mehrere hunderttausende Publikationen rund um Sepsis veröffentlicht. Foto: CC0 (Stencil)
In den letzten 80 Jahren wurden mehrere hunderttausende Publikationen rund um Sepsis veröffentlicht. Foto: CC0 (Stencil)

Die Forschung im Bereich Sepsis stand nicht still: „In den letzten 80 Jahren wurden mehrere hunderttausende Publikationen zu diesem Thema veröffentlicht“, so Adamzik. An der Letalität (Sterbewahrscheinlichkeit) hat sich seitdem trotzdem nichts geändert. „Weder Resistenzen noch schlechte Therapien sind das Problem. Das Problem sind Millionen von komplexen kaskadenartigen Prozessen, die durch die Infektion ausgelöst werden und die momentan nicht gestoppt werden können.“ Selbst wenn der Auslöser eliminiert wurde – etwa ein Bakterium durch ein Antibiotikum – geht die Abwärtsspirale des Sepsis-Syndroms weiter, erläuterte Adamzik. Denn die Sepsis ist komplex und verläuft nicht linear. Es gibt unglaublich viele Varianten und Stellgrößen, so der Experte: „Wenn ich unten antippe, bewegt sich an einer ganz anderen Stelle etwas und das führt wieder an einer anderen Stelle zu neuen Bewegungen.“ 

Die gute Nachricht ist: „Seit wenigen Jahren ist es […] grundsätzlich möglich, solche komplexen oder chaotischen Systeme mathematisch zu beschreiben, indem man nicht nur Big Data von den Patienten generiert, sondern auf dieser Basis mathematische Muster erstellt, die zur Abschätzung der therapeutischen Akut- und Langzeitprognose, sowie zur Implementierung der personalisierten Therapie in den klinischen Alltag genutzt werden können“, so Adamzik (s. HSK-Webseite).

Immunsystem: „Ozean an Daten“ für Sepsisanalyse

Ein „Ozean an Daten“ als Grundlage für eine umfassende Sepsis-Analyse. Foto: CC0 (Stencil)
Ein „Ozean an Daten“ als Grundlage für eine umfassende Sepsis-Analyse. Foto: CC0 (Stencil)

Den „Ozean an Daten“ als Grundlage für eine umfassende Sepsis-Analyse bietet laut Adamzik das Immunsystem selbst. Mittels durchflusszytometrischer Techniken, zusammengefasst in den sog. OMICs-Technologien, lässt sich heutzutage z.B. das gesamte Genom, Transkriptom oder Proteom einer Zelle erfassen. Das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) erklärt dazu auf seiner Webseite: „Mit diesen Technologien können molekulare Veränderungen, die mit Erkrankungen […] einhergehen, umfassend und detailliert erfasst werden.“ Adamzik: „Wir versuchen, die Daten durch diese Techniken zu erzeugen, und setzen Künstliche Intelligenz ein“. Ziel ist es, auf diese Weise gewisse Muster zu entdecken, die evtl. Aufschluss über Überleben und Therapieerfolg bei Sepsis geben. Zusätzlich können klinische Daten wie etwa die Hauttemperatur gesammelt und analysiert werden.

Adamziks Hoffnung ist, dass die Forscher dank der neuen Technologien das Krankheitsbild Sepsis bald ganz neu verstehen können. Auf dieser Hoffnung wurde in Nordrhein-Westfalen das „SepsisDataNet“ gegründet – gefördert aus Mitteln des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE). Laut Adamzik werden vier Universitäts- und sechs Knappschaftsklinken darin vernetzt; 150 Patienten sind bereits eingeschlossen.

Auf der Webseite des Projekts heißt es: „Biomarker oder klinische Testverfahren, die dieses komplexe immunologische Syndrom gut charakterisieren, existieren nicht, sodass derzeit auch keine an den Immunstatus angepasste kausale Therapie erfolgen kann. Das Fehlen der Charakterisierung scheint mitverantwortlich für die immer noch hohe Letalität der Sepsis zu sein. Des Weiteren unterliegt die zeitliche Abfolge und die Stärke der inflammatorischen und antiinflammatorischen Antwort einer großen intraindividuellen Variabilität“. Im Prinzip geht es darum mithilfe einer umfangreichen Analyse der Patientendaten „aus den vielen Mosaiksteinen ein stimmiges Bild“ zu schaffen und die Ergebnisse schließlich „im Rahmen geeigneter Produkte in die klinische Routinediagnostik der Krankenhäuser“ zu überführen. Das soll es letztendlich ermöglichen, in der klinischen Praxis prognostische Aussagen zum Verlauf der Erkrankung zu treffen und personalisiert „auf Basis des analysierten Immunstatus“ zu therapieren.

Größte Sepsis-Biobank Europas

Wie Adamzik erzählte fahren jeden Tag aus dem Universitätsklinikum Knappschaftskrankenhaus Bochum zwei Medizinisch Technische Assistenten (MTAs) zu den beteiligten Kliniken: Sie „nehmen dort Blut ab und bereiten es so auf, dass wir am Ende der Förderzeit sicherlich die größte Biobank Europas zu diesem Thema haben“. Allerdings kann aus finanziellen Gründen bislang nur ein kleiner Teil der möglichen Daten analysiert werden. „Wir müssen weitermachen. Wir müssen diese Zahl an 162 Todesfällen pro Tag dramatisch reduzieren“, appellierte Adamzik mit Blick auf Politik und Wissenschaftsförderung. Auf dem „SepsisDataNet“ aufbauend wurde „SYMBARA“ ins Leben gerufen.

In Deutschland führende Experten der Sepsisforschung sind hier zusammengeschlossen. Ziel ist es laut Webseite „eine langfristige Biobank von konstant etwa 500 Patienten nachhaltig aufrechterhalten“ und ein „möglichst komplettes Bild der Dynamik der Sepsis“ abzubilden.

Bis es so weit ist, ist es noch ein langer Weg. Heike Gebhard, Landtagspolitikerin (SPD) in Nordrhein-Westfalen erklärte auf der HSK-Veranstaltung: „Es wäre in der Tat unverantwortlich, diese Möglichkeiten, die sich [aus Big Data] ergeben, nicht zu nutzen“. Sie forderte darüber hinaus, die Möglichkeiten der Sepsis-Prävention weiter ins öffentliche Bewusstsein zu rücken: Dazu gehöre etwa, die Impfbereitschaft in der Bevölkerung zur Vermeidung von Infektionen zu erhöhen. Aber auch ein umsichtiger Umgang mit Antibiotika sei wichtig – Stichwort Resistenzen. 

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