Sechs Millionen: So viele Menschen durchlaufen Schätzungen zufolge jedes Jahr den Strafvollzug in der europäischen Region. Von 39 Ländern hat die WHO Daten analysiert, um Auskunft über den Gesundheitsstatus der Inhaftierten und über die Gesundheitssysteme hinter Gittern zu erhalten. Diese lassen laut Dr. Carina Ferreira Borges, Leiterin des Programms „Alkohol und illegale Drogen“ bei der WHO Europa, auf einen „enormen Unterschied zwischen dem allgemeinen Gesundheitszustand der Häftlinge und dem der Allgemeinbevölkerung schließen.“
So sind in Gefängnissen z.B. psychische Leiden ein großes Problem. Doch 14 Prozent der Mitgliedstaaten, die zu dem Thema Daten vorliegen hatten, gaben an, beim Eintritt in den Strafvollzug keine Untersuchungen auf schwere geistige Erkrankungen durchzuführen. Ginge es nach der WHO, sollten Häftlinge zum Beginn ihrer Gefängnisstrafe z.B. auf Anzeichen für Selbstschädigung gescreent werden. Denn: 13,5 Prozent aller Todesfälle in europäischen Haftanstalten sind durch Suizid bedingt.
HIV, Tuberkulose u.v.m.
„Es gibt erdrückende Anzeichen, dass Menschen im Strafjustizsystem unverhältnismäßig oft von komplexen, parallel auftretenden Gesundheitsproblemen betroffen sind“, heißt es in dem „Status report on prison health in the WHO European Region“. Dazu zählen neben psychischen Leiden, auch Drogenabhängigkeit, Infektionskrankheiten wie HIV/AIDS, Hepatitis und Tuberkulose oder nichtübertragbare Erkrankungen.
Zwar unterscheiden sich die Prävalenzraten z.B. für HIV von Land zu Land; die höchsten gemeldeten Raten liegen laut WHO jedoch bei 5,4 Prozent der männlichen und 4,7 Prozent der weiblichen Inhaftierten. Zum Vergleich: In Deutschland leben laut Robert Koch-Institut insgesamt etwa 87.900 Menschen mit dem HI-Virus – von rund 83 Millionen. Das macht einen Anteil von etwas mehr als 0,1 Prozent. In Bezug auf die Infektionskrankheit Tuberkulose liegt die der WHO Europa höchste gemeldete Rate gar bei 25 Prozent der Gefangenen.
Negative Auswirkungen auf öffentliche Gesundheit
„Jedes Jahr kehrt ein erheblicher Teil der Häftlinge in die Gesellschaft zurück.“ Darauf weist Dr. Bente Mikkelsen von der WHO Europa hin. Aber nicht nur die Gesundheitsversorgung in den Gefängnissen weist Lücken auf; der „Zyklus zwischen Haft und Leben in der Gesellschaft“ führt außerdem oft dazu, dass sie auch außerhalb des Strafvollzugs unstet wird. Gerade Defizite unmittelbar nach Entlassung können „erhebliche negative Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit haben und die Fähigkeit eines Landes zur Beseitigung von Ungleichheiten beeinträchtigen“, so die WHO. Es ist eine verpasste Chance: Denn Haftanstalten bieten die Möglichkeit Personen aus einer Bevölkerungsgruppe zu untersuchen und zu behandeln, „die zuvor vielleicht keinen oder nur begrenzten Zugang zur Gesundheitsversorgung oder zu einem gesunden Lebensstil hatte.“
Eine Haftstrafe beschneidet die Freiheit der Gefangenen, sagt Mikkelsen – und fordert: „Sie sollte nicht auch noch ihre Gesundheit beeinträchtigen und damit ihr Recht auf Gesundheit beschneiden.“