Gentherapien haben das Potenzial die Medizin grundlegend zu verändern. Nun ist die Sorge groß, dass sie das Gesundheitssystem sprengen könnten. Das ist eher unwahrscheinlich. Ein Kommentar von Florian Martius. Foto: ©iStock.com/NEW-LIGHT-VISUALS
Gentherapien haben das Potenzial die Medizin grundlegend zu verändern. Nun ist die Sorge groß, dass sie das Gesundheitssystem sprengen könnten. Das ist eher unwahrscheinlich. Ein Kommentar von Florian Martius. Foto: ©iStock.com/NEW-LIGHT-VISUALS

Gentherapien sprengen die Grenzen der Medizin

Gentherapien haben das Potenzial die Medizin grundlegend zu verändern – und damit das Leben von Millionen von Menschen, deren Krankheiten gar nicht oder nur unzureichend behandelt werden können. Bisher sind in Deutschland 15 solcher Arzneimittel zugelassen, doch die Forschung boomt. Nun ist die Sorge groß, dass die Ausgaben für die Königsdisziplin der Arzneimittelforschung das Gesundheitssystem sprengen könnten. Das ist eher unwahrscheinlich. Ein Kommentar von Florian Martius.
Florian Martius, Chefredakteur Pharma Fakten
Florian Martius, Chefredakteur ©Pharma Fakten

Gentherapeutika – Hoffnungsträger oder Systemsprenger?“ – so heißt die Untersuchung, die die Techniker Krankenkasse zusammen mit dem aQua-Institut vorgelegt hat. Bei der TK macht man sich Sorgen, denn Gentherapien sind im Kommen; weltweit sind 49 solcher Arzneimittel soweit, dass sie den Patient:innen in absehbarer Zeit zur Verfügung stehen könnten, so der Bericht. Und sie sind vergleichsweise teuer: Die Preisspannen der heute in Deutschland zugelassenen Arzneimittel liegen zwischen 72.200 Euro und 4.165.000 Euro.

Bisher stehen Gentherapien vor allem Menschen mit seltenen Erkrankungen zu Verfügung; sprich: nur wenige Patient:innen kommen für die Behandlung in Frage. Längst wird aber auch an „großen“ Krankheiten geforscht – darunter Wirkansätze gegen Diabetes Typ 1 und Herzinsuffizienz. Das dürfte die Zahl der Menschen, die solche Therapien erhalten könnten, merklich erhöhen – und damit auch die Ausgaben. Der Bericht hat simuliert, was passiert, wenn die genannten 49 Arzneimittel in die Versorgung kommen. Demnach könnten rund 3,8 Millionen Patient:innen von den neuen Therapien profitieren. Die zusätzlichen Ausgaben prognostiziert aQua auf 27 Milliarden Euro bis 36 Milliarden Euro. Das ist „eine grobe Prognose“, so der Bericht. Aber es wäre natürlich viel Geld. Von 2 zusätzlichen Beitragspunkten spricht die TK, die dann auf die Versicherten zukämen.

Das TK-Modell: Eine „grobe Prognose“

Es gibt ein paar Punkte, die dagegensprechen, dass es so kommen wird. Zunächst zu dem Modell: Fast alle Parameter sind „grob“ geschätzt. Das gilt nicht nur für die Preise. Denn nicht alle 49 Präparate werden es in die Versorgung schaffen, ihre Zulassungen werden sich über Jahre strecken und die Tatsache, dass Arzneimittelinnovationen selbst nach Zulassung immer erst zeitverzögert bei den Menschen ankommen, ist auch nicht berücksichtigt.

Was ebenfalls unberücksichtigt bleibt: Die „freie“ Preisbildung gilt für forschende Pharmaunternehmen ziemlich genau 180 Tage – und streng genommen nicht einmal das. Denn vom ersten Tag an ist der gesetzliche Herstellerrabatt fällig und ab Monat 7 gilt der im Zusatznutzenverfahren AMNOG verhandelte Preis. Auch das findet sich in dem Modell nicht wieder. Man kann es nicht oft genug schreiben: Alle Arzneimittelinnovationen durchlaufen in Deutschland ein strenges Nutzenverfahren, das den Zusatznutzen zu bestehenden Therapien bestimmt. Dies ist Grundlage für die Verhandlungen zwischen dem Spitzenverband der Krankenkassen und den Unternehmen. Deswegen gilt für die seit 2011 neuen Arzneimittel ein verhandelter Preis, der von den Krankenkassen abgesegnet ist. Zumindest gilt das für 90 Prozent der Fälle (der Rest wird über eine Schiedsstelle abgewickelt).

Die Liste der angekündigten Preisexplosionen ist lang

Das bedeutet: Das Modell ist auf den ersten Blick nicht völlig unplausibel, aber steht methodisch doch auf schwachen Füßen. Hinzu kommt: Die Liste der angekündigten Kostenexplosionen von Seiten der Krankenkassen ist lang. Im Jahr 2014 prognostizierte die AOK Ausgaben für die neuen Hepatitis-C-Medikamente von 5 Milliarden Euro im Jahr. Am Ende war es für diese neue Klasse von Antiviralen, die für Heilungsraten von fast 100 Prozent stehen, nur ein Bruchteil. Deshalb an dieser Stelle schon mal eine Beruhigungspille – ganz ohne E-Rezept: Kostenexplosionen bei Arzneimittelausgaben sind schon unzählige Male angekündigt worden. Eingetreten ist keine davon.

Über die Kosten von Innovation zu reden, macht nur Sinn, wenn man den Nutzen dagegenstellt. Foto: CC0 (Stencil)
Über die Kosten von Innovation zu reden, macht nur Sinn, wenn man den Nutzen dagegenstellt. Foto: CC0 (Stencil)

Über die Kosten von Arzneimittelinnovation zu reden, macht nur Sinn, wenn man den medizinischen Gewinn, ihren Nutzen, dagegenstellt. Unter den Gentherapien, die heute schon in der Versorgung kranker Menschen zum Einsatz kommen, sind Arzneimittel, die erstmals die kausale Behandlung seltener Erkrankungen wie der Spinalen Muskelatrophie (SMA) möglich machen – bisher war das die häufigste genetisch bedingte Todesursache bei Kleinkindern. CAR-T-Therapien stehen für eine neue Ära in der Krebsmedizin (und potenziell auch für andere Erkrankungen) – sie kommen bei verschiedenen Lymphomen oder beim Multiplen Myelom zum Einsatz. Gentherapien gibt es für Menschen mit Hämophilie, der Sichelzellkrankheit oder der Beta-Thalassämie. Ihr Versprechen: Sie wollen eine Einmaltherapie sein – denn sie greifen korrigierend ein, um einen Gendefekt zu reparieren. Das könnte bedeuten: Kein lebenslanges Leiden unter den Folgen einer schlecht behandelbaren, chronischen Erkrankung – mit entsprechenden Auswirkungen auf die Kosten für die Gesellschaft.

Da ist (noch) viel Konjunktiv: Die Therapien sind zu jung, um das abschließend beurteilen zu können. Aber ein Durchbruch sind sie für die Menschen heute schon. Gentherapien stehen für einen Paradigmenwechsel: Wenn sie ihr Versprechen halten, dann reden wir von Einmaltherapien, die teils jahrzehntelange Folgebehandlungen ersetzen könnten.

Das Gesundheitssystem: Teuer und ineffizient

Was an der Debatte irritiert: Ob wir uns den Fortschritt leisten können, wie das mit sorgenfalten-beschwerter Stimme oft formuliert wird, ist die falsche Frage. Denn Deutschland leistet sich ein sehr teures, aber hochgradig ineffizientes System, wie der Bundesgesundheitsminister in seinen „Empfehlungen für eine stabile, verlässliche und solidarische Finanzierung der GKV“ feststellt. Das heißt: Es ist viel Geld da, aber es wird schlecht gemanagt. „Über viele Jahre wurden dringend notwendige Strukturreformen nicht konsequent angegangen“, so lautet das Eingeständnis (s. Pharma Fakten). Das bedeutet: Das vorrangige Problem ist erstmal nicht der medizinische Fortschritt und die damit verbundenen Kosten. Das vorrangige Problem ist ein Reformstau, der das ganze System lähmt – und damit ständig suggeriert, dass es hinten und vorne nicht reicht.

Es braucht einen Masterplan für eine grundlegende Reform des Gesundheitswesens. Foto: CC0 (Stencil)
Es braucht einen Masterplan für eine grundlegende Reform des Gesundheitswesens. Foto: CC0 (Stencil)

Vielleicht ist es deshalb Zeit für eine neue Allianz im Gesundheitswesen: Warum tun sich nicht Krankenkassen, Versorger wie Ärzt:innen, Pflege- und Klinikverbände, Patienten:innen-Vertreter, Fachgesellschaften und Pharmaunternehmen zusammen – und fordern von der Politik endlich gemeinsam einen Masterplan für eine grundlegende Reform des Gesundheitswesens? Schließlich haben sie alle eines gemeinsam: Sie leiden in den unterschiedlichsten Facetten unter dem Alltag in einem hochineffizienten System. Führende Onkologen haben es vorgemacht: Sie haben einen 10-Punkte-Plan entworfen, weil sie erkannt haben, dass das Gesundheitssystem eine erhebliche Hürde dafür ist, ihre Krebspatient:innen optimal behandeln zu können. Und damit wollen sie sich nicht abfinden. Denn das steht ihrer Vision im Wege – der „Vision Zero“, nach dem jeder vermeidbare Krebsfall der eine zu viel ist.

Eines ist sicher: Wenn Gentherapien zurzeit irgendetwas sprengen, dann sind das die Grenzen der Medizin. Es wird Zeit, dass wir unser Gesundheitssystem an die Chancen dieses Fortschritts anpassen – und nicht versuchen, den Fortschritt mit den Mitteln von gestern zu managen.

Weiterführender Link:
Techniker Krankenkasse, aQua-Institut: Gentherapeutika – Hoffnungsträger oder Systemsprenger?

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