„Die Wirtschaft in Deutschland bleibt angeschlagen“, erklärte Dr. Claus Michelsen, Geschäftsführer Wirtschaftspolitik und Chefvolkswirt beim vfa, im Frankfurter Presseclub. Laut der Frühjahrsprognose des Verbands kann die Bundesrepublik in diesem Jahr „nur ein schwaches Wachstum von 0,4 Prozent“ beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) erwarten – nach einem Rückgang in 2023. Deutschland warte „weiter auf den Aufschwung“. Die „fehlenden Impulse aus dem Ausland und auch die ausbleibende Investitionsgüternachfrage im Inland“ machen gesamtwirtschaftlich zu schaffen, so der Experte. „Die Industrie ist nach wie vor durch Krisen gekennzeichnet.“
Aber: „Für das kommende Jahr gibt es allmählich wieder etwas Erholung und Hoffnung“. Ein Wachstum von 1,2 Prozent beim BIP sagt der vfa für 2025 voraus. „Wir können damit rechnen, dass sich der Konsum etwas erholt, nachdem die Reallöhne wieder steigen, also die Inflationswelle durchgerauscht ist, und wieder etwas mehr Kaufkraft zur Verfügung steht“, kündigte Michelsen an. Doch viele Probleme seien noch ungelöst – die deutsche Wirtschaft bleibe daher „hinter ihren Möglichkeiten zurück“. Sorge bereitet ihm das Thema Investitionen: „Wir denken, dass die Investitionen in diesem Jahr um fast 2 Prozent sinken werden, nachdem sie 2023 ebenfalls gesunken sind.“ Das beschere „Deutschland einen längerfristigen Nachteil“ – andere Länder wie die USA werden moderner, „während wir nicht so schnell voranschreiten“. Auch die prognostizierten 2-prozentigen-Zuwächse bei den Investitionen im Jahr 2025 „sind sehr, sehr moderat und eigentlich zu wenig, um den Modernisierungsstau im Land aufzulösen.“
Pharma: Stabil in der Krise – mit Luft nach oben
Es gebe aber Branchen, „in denen Lichtblicke zu verzeichnen sind: Eine davon ist die pharmazeutische Industrie“. Sie zeige „nicht nur Stabilität, sondern im industriellen Vergleich ein deutliches Wachstum“. Während die Produktion der Gesamtindustrie 2024 um 2,5 Prozent zurückgehen dürfte, könne sich die Pharmabranche „als einzige Schlüsselindustrie mit Produktionszuwächsen und steigenden Investitionen absetzen“, schreibt der vfa. Erwartet werden hier ein Plus von 2,1 Prozent bei der Produktion und von 3,5 Prozent bei den Investitionen. „Hier ist aber noch mehr drin“, betonte Michelsen. „Um Deutschland als Industriestandort zu stärken, benötigen wir erhebliche Investitionen in Hightech-Anlagen und Forschung. Hierfür ist essenziell, dass die Rahmenbedingungen verbessert und Anreize zu innovieren gesetzt werden, um nachhaltiges Wachstum zu sichern.“ Er machte deutlich: „Wir brauchen Hightech-Produktion und -Produkte, um international wettbewerbsfähig zu sein – allein über die Arbeitskosten werden wir es künftig nicht schaffen, unseren Wohlstand zu sichern.“
Insgesamt brauche „Deutschland deutlich mehr wirtschaftliche Dynamik, damit wir einerseits jetzt diese Krise überwinden und andererseits auch keine Nachteile für die Zukunft erfahren – denn die fehlenden Investitionen heute sind etwas, was uns an Modernität und Wettbewerbsfähigkeit in den kommenden Jahren verloren geht.“
Pharmastandort Deutschland: International an Bedeutung verloren
Auch Dr. Daniel Steiners, stellvertretender vfa-Präsident und Geschäftsführer der Bayer Vital GmbH, unterstrich, dass die Pharmabranche ein „Katalysator für heutiges und künftiges Wachstum“ sein kann. Doch mit Blick auf den hiesigen Standort gebe es aktuell „Licht und Schatten“. Was zum Beispiel die Durchführung von klinischen Studien angeht, habe Deutschland im internationalen Vergleich in den vergangenen Jahren an Bedeutung verloren – insbesondere mit Blick auf die USA und China. „Das politische Umfeld in ganz Europa muss verlässliche Rahmenbedingungen schaffen, damit Forschung, Entwicklung und Produktion in diesem komplexen Ökosystem der Gesundheitswirtschaft voranschreiten können“, forderte er. Die geplanten Änderungen beim Unterlagenschutz im EU-Pharma-Paket sieht er daher kritisch.
Aber auch Deutschland selbst hat viel zu tun: „Die medizinische Landschaft verändert sich gerade rapide“. Neben Gen- und Zelltherapien würden zunehmend zielgerichtete Arzneimittel für kleine Patientengruppen entwickelt, etwa „bei seltenen Erkrankungen, für die es heute noch keinerlei adäquate Therapien gibt.“ Die Daten aus speziellen Studiendesigns, die dann häufig in der Forschung und Entwicklung zum Einsatz kommen, werden im deutschen Verfahren der Arzneimittel-Nutzenbewertung oft nicht berücksichtigt. Das sei ein „Riesenfehler“ im System. Hinzu kommt ein von der Industrie als innovationsfeindlich erachtetes GKV-Finanzstabilisierungsgesetz, das Ende 2022 in Kraft trat. „Die Folgen daraus werden zunehmend deutlich“, sagte Dr. Steiners. Verkennt das System den therapeutischen Zusatznutzen von Innovationen aufgrund einer starren Bewertungsmethodik, hat das Folgen für die Preisverhandlungen der pharmazeutischen Unternehmer mit den Krankenkassen. „Letztlich wirkt sich das negativ auf die Verfügbarkeit und den Einsatz neuer Therapie in der Versorgung von Patienten aus.“
Mehr Mut am Pharmastandort Deutschland
Steiners forderte mehr Mut in Deutschland: Die Frage für die kommenden Jahre sei nicht, „ob medizinische Innovationen stattfinden werden. Sie werden kommen. Die Frage ist, wo sie stattfinden werden“ – und inwiefern die Patient:innen in Europa davon profitieren. „Vor 2 Jahrzehnten haben die USA knapp 2 Milliarden Dollar mehr in Forschung und Entwicklung investiert als Europa. Heute beträgt dieser Unterschied 20 Milliarden Dollar.“ Diese Lücke gelte es, mindestens zu verringern.
Außerdem müsse das Potenzial genutzt werden, „das in Aspekten wie Digitalisierung und Künstliche Intelligenz steckt. Wir haben im Gesundheitssektor unglaubliche Chancen, um Bürokratie abzubauen, Kosten zu senken, Effizienz zu steigern.“
Die Ende 2023 beschlossene Nationale Pharmastrategie der Bundesregierung ebne „den Weg für eine Erhöhung der Attraktivität der Pharmastandorts in Deutschland“, findet Steiners. „Das macht uns optimistisch: Nur durch stabile und innovationsfreundliche Rahmenbedingungen kann der Pharmastandort Deutschland langfristig erfolgreich bleiben.“ Jetzt müsse man „ins Machen kommen“ – und etwa die Genehmigungsverfahren für klinische Studien vereinfachen bzw. beschleunigen, die Digitalisierung im Gesundheitswesen voranbringen, Investitionen in Innovations- und Forschungsprojekte fördern und für stabile Rahmenbedingungen in Bezug auf den Marktzugang und die Erstattung von Arzneimitteln sorgen. Das Ziel? „Ein lebendiges, nachhaltiges Innovationsökosystem in Deutschland – nicht nur heute, sondern auch für die Generationen, die nach uns kommen“, resümierte der stellvertretende vfa-Präsident.
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