„Die Digitalisierung bietet enorme Chancen für die Gesundheitsversorgung. Das beginnt damit, Abläufe im Behandlungsalltag zu erleichtern. Und das reicht heute schon so weit, dass Diagnosen und Therapien individuell auf den jeweiligen Patienten bzw. die jeweilige Patientin abgestimmt werden“, sagte Judith Gerlach, Bayerische Staatsministerin für Gesundheit, Pflege und Prävention (CSU), in einem Videogruß. Nun müsse man „diese Chancen endlich ergreifen“. Die jüngsten Digitalgesetze der Bundesregierung „zielen in die richtige Richtung. Aber es geht alles nur im Schnecken-Tempo voran“.
Digitalisierung: Patientenschutz statt nur Datenschutz
Die Diskutierenden im Healthineers Innovation Center in Erlangen waren sich einig: Es gilt, in Deutschland mehr über die positiven Seiten einer konsequenten Gesundheitsdatennutzung zu sprechen – anstatt nur über potenzielle Risiken.
Mit der „Datenschutzgrundverordnung“ (DSGVO) müsse „ermöglichend“ umgegangen werden, forderte Nick Schneider vom Bundesgesundheitsministerium (BMG). Er verwies auf „eine ganz entscheidende Stelle“ in der DSGVO, „welche die meisten nicht kennen“. In Artikel 1, Absatz 3 heißt es: „Der freie Verkehr personenbezogener Daten in der Union darf aus Gründen des Schutzes natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten weder eingeschränkt noch verboten werden.“ Im Fokus steht – anders als häufig in der öffentlichen Debatte – eben nicht nur der Datenschutz: „Es geht darum, Menschen zu schützen und Daten zu nutzen“, fasste er zusammen.
Auch Landtagspolitiker Bernhard Seidenath (CSU) betonte, dass es unabdingbar ist, den „Patienten die Segnungen der digitalen Medizin zukommen zu lassen“. Er betrachtet das als eine „ethische Verpflichtung“. Ähnlich sieht das Birgit Bauer. Sie ist Gründerin und Projektleiterin von „Data Saves Lives“ in Deutschland – eine Initiative mehrerer Interessengruppen, die es sich zum Ziel gesetzt hat, bei Patient:innen und in der Öffentlichkeit mehr Bewusstsein dafür zu schaffen, wie wichtig Gesundheitsdaten sind. „Wir müssen das den Menschen erklären, wir müssen sie mitnehmen und ihnen zeigen, dass das etwas ganz Tolles ist. Wir können ja Daten schützen. Aber wir müssen uns auch überlegen: Müssen wir wirklich den Datenschutz über den Patientenschutz stellen?“ Damit riskiere man Menschenleben.
Fortschritt: EHDS in Europa, Digitalgesetze in Deutschland
Birgit Bauer ist daher ein „Fan“ des Europäischen Raums für Gesundheitsdaten (EHDS). Laut EU-Kommission wird der EHDS die Menschen dazu „befähigen, die Kontrolle über die personenbezogenen Gesundheitsdaten zu übernehmen“, „den Datenaustausch zum Zweck der Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen in der gesamten EU (Primärnutzung von Daten) vereinfachen“, „einen echten Binnenmarkt für elektronische Patientendatensysteme fördern“ sowie ein „kohärentes, vertrauenswürdiges und effizientes Umfeld für Forschung, Innovation, Politikgestaltung und Regulierungstätigkeiten (Sekundärnutzung von Daten) schaffen.“ Man bekomme damit eine länderübergreifende Harmonisierung – „und wir schaffen es, dass europaweit die Bürgerinnen und Bürger ein Recht auf eine elektronische Patientenakte haben“, so Schneider, BMG. „Wir können dann endlich Daten von A nach B transportieren – und zwar nicht in einem dicken Aktenordner.“ Der EHDS ist in seinen Augen ein „Gamechanger“ – auch wenn es noch dauern wird, bis er vollständig umgesetzt ist.
Das im März 2024 in Kraft getretene „Gesundheitsdatennutzungsgesetz“ (GDNG) der Bundesregierung bereite das deutsche System schon mal auf den EHDS vor. Damit sollen Gesundheitsdaten für die Forschung erschlossen werden. Unter anderem wird dazu eine dezentrale Gesundheitsdateninfrastruktur mit einer zentralen Datenzugangs- und Koordinierungsstelle aufgebaut. „Auch die Industrie kann selbstverständlich für entsprechende Forschungszwecke Daten beantragen“, so Schneider. Ebenfalls seit März 2024 gibt es hierzulande ein „Digital-Gesetz“ (DigiG) – für eine beschleunigte Digitalisierung des hiesigen Gesundheitswesens: Herzstück des Ganzen bildet die elektronische Patientenakte (ePA). Sie soll Anfang 2025 für alle gesetzlich Versicherten eingerichtet werden – außer es erfolgt ein Widerspruch („Opt-Out“).
Digitalisierung braucht mehr Kommunikation
Aus Sicht von Anna Wierzchowski, Chefjuristin bei der Wellster Healthtech Group, bräuchte es nun eigentlich ein „Vertrauensstärkungsgesetz“ – und „zwar nicht nur für Patienten, sondern auch für die einzelnen Akteure, im Apothekenmarkt, bei den Ärzten, in der Politik“. Denn ohne all diese Menschen wird die Umsetzung der Digitalisierung nicht gelingen.
Dr. med. Stefan Kropff, Medizinischer Direktor beim Biotechnologie-Unternehmen Amgen, betonte: „Die Kommunikation, die wir vor uns haben, insbesondere mit der ePA, ist höchstsensibel und eine riesige Aufgabe“. Dr. med. Eimo Martens, Oberarzt und Leiter Device-Therapie und telemedizinisches Zentrum am Klinikum Rechts der Isar, ist überzeugt: Das gelingt nur, wenn man – etwa den Ärzt:innen – den Mehrwert der Digitalisierung aufzeigt. Auch Birgit Bauer appellierte, in der Öffentlichkeit verstärkt über Positivbeispiele zu sprechen. Man müsse raus aus dem Silodenken, raus aus der Expertenbubble – „wir müssen uns miteinander vernetzen“. Es gilt, die Bürger:innen einzubeziehen. „Partizipation“ ist das Stichwort – ganz nach dem Motto: Wenn die Menschen verstehen, tragen sie Veränderungen auch eher mit. CSU-Mann Seidenath kritisierte, dass „für die gesamte Kommunikationsstrategie des GDNG“ nur 4 Millionen Euro bundesweit zur Verfügung stehen. Bislang würden Menschen und Leistungserbringer nicht richtig mitgenommen und nicht ausreichend auf die kommenden Entwicklungen vorbereitet. Er befürchtet einen „Kaltstart der ePA Ende dieses Jahres; es ruckelt.“ Dabei weiß er: „Die meisten Innovationssprünge bietet die Digitalisierung. Daten teilen heißt: besser heilen.“
Gesundheitsdatenschatz bergen: Noch viel zu tun
Nicht nur in Sachen Kommunikation muss in Deutschland noch viel passieren: In mehreren Workshops erarbeiteten die am Event teilnehmenden Fachleute, woran es aktuell noch hapert. Ein Beispiel: Aus Sicht der Industrie spielen bestehende rechtliche Unsicherheiten beim Datenschutz eine hemmende Rolle. Außerdem braucht es mehr Standardisierung: So gilt es etwa, die Prozesse rund um Verträge zu Datennutzungsrechten so zu vereinheitlichen, dass es nicht für jedes Forschungsprojekt zeitintensive, individuelle Verhandlungen braucht. Klar ist auch: Nur wenn alle Akteur:innen bei der Datenerhebung gewisse technische Normen einhalten, können verschiedene Informationssysteme wirklich miteinander kommunizieren; nur dann ist der Austausch von Daten aus verschiedenen Quellen ohne größeren Aufwand möglich; nur dann sind Gesundheitsdaten gut nutzbar. „Wir brauchen Daten für die industrielle Forschung“, fasste Dr. Jörg Traub von der Bayern Innovativ GmbH zusammen. Sie sind Voraussetzung für eine bessere, wirklich patientenindividuelle Medizin und Versorgung. Die rechtlichen Grundlagen sind gelegt – nun ist beherzte Umsetzung gefragt.
Die Veranstaltung „Global denken, lokal handeln 2.0“ im Healthineers Innovation Center in Erlangen (29.04.2024) wurde organisiert von Amgen GmbH, EIT Health, Medical Valley EMN e. V. und moderiert von Marina Leonie Moskvina, hecama GmbH.
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