Es ist ein Meilenstein – wer würde das bestreiten? Morgen Vormittag (9.11.2023) berät der Bundestag in erster Lesung über 2 Gesetzentwürfe, die Bundesgesundheitsminister Professor Dr. Karl Lauterbach eingebracht hat. Die Fachleute, die an ihnen seit Monaten feilen, haben ihnen längst Kürzel verpasst: Es sind das DigiG (Digitalgesetz zur „Beschleunigung der Digitalisierung im Gesundheitswesen) und das GDNG oder Gesundheitsdatennutzungsgesetz.
- Im Zentrum des DigiG steht die elektronische Patientenakte (ePA). Mit dem Gesetz will die Bundesregierung den Behandlungsalltag für Ärzt:innen und Patient:innen mit digitalen Lösungen vereinfachen. Weitere Themen sind das E-Rezept, die digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAs) und die Telemedizin.
- Das GDNG soll die notwendige Infrastruktur schaffen, um die Nutzung von Gesundheitsdaten für die Forschung zu erleichtern. Unter anderem soll dafür eine zentrale Datenzugangs- und Koordinierungsstelle entstehen.
Beide Entwürfe sollen im Februar 2024 in Kraft treten. Erfüllen sie die Erwartungen?
Um mit dem Konsens der Expert:innen auf dem #ONKODIGITAL-Podium zu beginnen: Auch wenn die Entwürfe nicht perfekt sind, gehen die Vorhaben der Ampel-Regierung in die richtige Richtung. Allgemeiner Tenor: Der Gesetzgeber schaffe die Voraussetzungen, damit in dem hochkomplexen Gebiet von Datenerhebung, -austausch, -verwertung und -sicherheit ein einheitlicher Rahmen entsteht. Endlich, so Dr. Florian Fuhrmann, Mitgründer von Lillian Care, würden aus „arztzentrierten Daten patientenzentrierte Daten“ – sprich: Daten, über die die Patient:innen verfügen können. Mit DigiG und GDNG „werden die Voraussetzungen geschaffen, damit wir aus Daten Wissen generieren und in der Versorgung sinnvoll einsetzen“ – etwa um Behandlungspfade zu optimieren oder Präventionsprogramme zu entwickeln.
Fuhrmann glaubt, dass digitale Technologie die strukturellen Probleme im Gesundheitswesen „zumindest zum Teil lösen kann.“ Eine überalterte Ärzteschaft ist jetzt schon Realität. Sie könnte dazu führen, dass in Zukunft für mehr als 12 Millionen Menschen in ländlichen Gebieten eine allgemeinmedizinische Versorgung nicht mehr angeboten werden kann, weil in rund 40 Prozent der Landkreise eine Unterversorgung droht. „Da werden ePA, Videosprechstunde oder DiGAs in Zukunft eine große Rolle spielen, um diese strukturellen Defizite lösen zu können.“
Datennutzung: Die „wissensgenerierende Versorgung“
Die Vorteile von Datennutzung für jeden nachvollziehbar machen – vielleicht liegt hier eines der Defizite begraben, warum die Digitalisierung im Gesundheitswesen oft so kritisch gesehen wird. Dr. Leonor Heinz ist Projektleiterin bei der Initiative Deutscher Forschungspraxennetze (desam-fornet). Sie sagt: „Die Erschließung der Routinedaten, die in den hausärztlichen Praxen umgesetzt werden, ist ein ganz entscheidender Punkt, um solide Hypothesen zu generieren, die man dann in klinischen Studien näher untersuchen kann.“ Das bedeutet: Bei den rund 180 Millionen Behandlungen, die Deutschlands Hausärzt:innen im Jahr durchführen, entstehen Gesundheitsdaten geradezu tonnenweise. Sie nicht zu nutzen, bedeutet: Die Medizin ist schlechter als sie sein könnte. Die Datenberge enthalten viele Schlüssel, um die Versorgung von kranken Menschen zu verbessern. „Der schöne Gedanke der wissensgenerierenden Versorgung wird mit Leben gefüllt“, so Heinz.
Kann Deutschland mit den beiden Gesetzen also durchstarten? Lauscht man den Expert:innen, fängt die Arbeit jetzt erst an. Jared Sebhatu, Vorstand der digital health transformation eG, sagt: „Wir haben zwar viele Daten, aber eigentlich haben wir sie nicht. Denn wenn man sie nutzen will, brauchen wir sie in einer hohen Qualität und strukturiert.“ Der digitale Alltag sieht anders aus. Soll heißen: Bevor aus Datenbergen Wissen wird, bevor die Potenziale und Synergien für die Menschen, die damit arbeiten müssen, nachvollziehbar werden, steht erstmal viel Arbeit an. „Das setzt Veränderungsbereitschaft voraus.“ Denn Daten müssen nicht nur einheitlich erfasst werden, es müssen auch alle mitmachen. Die Voraussetzung erfolgreicher Digitalisierung ist die Einigung auf und die Nutzung von einheitlichen Standards. Dr. Heinz sagt: „Wenn die Standards nicht vorhanden sind, dann gibt es auch keine Daten, die zusammenzuführen sind.“ Der medizinische Fortschritt wird gebremst.
Zeitfresser Digitalisierung?
Doch dafür braucht es erstmal Zeit – und das ist wahrscheinlich das letzte, was deutsche Hausärzt:innen haben, wie Dr. Markus Beier, Vorsitzender des Hausärztinnen- und Hausärzteverband, sagt: „Die Zeit ist ein Riesenthema in den Praxen. Die Behandlungsfälle müssen wir in der Regel mit immer weniger Personal schaffen.“ Hinzu kommt: Die Software in den Arztpraxen hilft nicht, weil sie – vornehm ausgedrückt – veraltet ist. Das Leben der Ärzt:innen, so die Botschaft, ist durch die IT nicht einfacher geworden. Beier sagt: „Es muss halt funktionieren.“ Offenbar tut es das (noch) nicht. Viele Digitalisierungsvorhaben beginnen mit einem Berg von Arbeit, bevor sich der Nutzen zeigt. Aber: „Das große Mehrwertversprechen der Digitalisierung ist, dass wir es schaffen, die richtige Information zum richtigen Zeitpunkt an die richtige Person zu bringen“, sagt Sebhatu. „Wenn wir das geschafft haben, werden wir auch sehen, dass wir positive Versorgungseffekte erzeugen können.“
Dr. Frederic Kube von Pfizer begrüßt die Gesetzesvorhaben. Als forschendes Unternehmen „sind wir auf die Daten angewiesen, nicht nur aus den klinischen Studien, sondern auch auf die aus dem Versorgungsalltag, aus der Real World. In diesen Datenpools ist großes Wissen vereinigt. Und wenn es uns gelingt, diese Daten auszuwerten, kann man immer individualisiertere Therapien entwickeln.“ Oder herausfinden, warum eine Therapie A bei Patientin A gut, bei Patientin B aber nicht so gut wirkt.
Mehr als ein Marathon: Digitalisierung im Gesundheitswesen
Mit den Digi-Gesetzen nimmt der Zug Fahrt auf. Alle Probleme können und werden sie nicht lösen. Die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen muss man sich als Marathon vorstellen, der sicher länger als die offiziellen 42,195 Kilometer ist. Und anstrengender.
Den Weg zu laufen – dazu gibt es aber keine Alternative: Zu groß sind die Herausforderungen im Gesundheitssystem, wie Fachkräftemangel, demografischer Wandel, der steigende Druck auf die Qualität und Effizienz der Versorgung. Und zu groß ist der wissenschaftlich-medizinische Nutzen, der Patient:innen nicht erreichen wird, wenn die Gesundheitsdatennutzung in Deutschland nicht endlich im 21. Jahrhundert ankommt. Denn digitalisierte Medizin ist die bessere Medizin.
Weiterführende Links:
Entwurf eines Gesetzes zur verbesserten Nutzung von Gesundheitsdaten (Gesundheitsdatennutzungsgesetz – GDNG)
Entwurf eines Gesetzes zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens (Digital-Gesetz – DigiG)
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