1885 gründete Albert Boehringer die pharmazeutische Firma Boehringer Ingelheim in Ingelheim am Rhein: Anfangs waren es 28 Angestellte, rund 140 Jahre später sind es mehr als 53.500 Mitarbeitende weltweit. Deutschland sei nach wie vor „der zentrale Standort“, wenn es um die „Realisierung unserer Innovationen“ geht, sagte Dr. Fridtjof Traulsen, seit Januar 2024 Deutschland-Chef des Unternehmens, bei einem „Media Round Table“. „Alle unsere Pipeline-Produkte werden aus Deutschland heraus zuerst hergestellt und in den Markt gebracht.“ Das Unternehmen investierte auch 2023 viel in die Bundesrepublik: „Wir sind nochmal gewachsen, was die Mitarbeitenden-Zahlen angeht: rund 18.000 sind es in Deutschland; außerdem haben wir rund 500 Millionen Euro in Sachanlagen und 2,5 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung investiert.“ Hierzulande habe man im vergangenen Jahr 2 Millionen Patient:innen erreicht.
Forschungs- und Pharmastandort: Deutschland fällt zurück
Was klinische Studien von Boehringer Ingelheim angeht, sei die Bundesrepublik zwar nach wie vor das zweitwichtigste Land weltweit, so Traulsen. Doch er betonte mit Blick auf die gesamte Forschungslandschaft: „Deutschland ist im internationalen Vergleich stark zurückgefallen.“ Einst wurden hier global und über alle Sponsoren hinweg gesehen die zweitmeisten klinischen Studien durchgeführt. Zuletzt reichte es nur noch für Platz 7 (Jahr 2021, s. vfa-Studie).
Auch hatte Traulsen Beispiele im Gepäck, die zeigten, „wie sich das hiesige Arzneimittelgesetz und Erstattungswesen auf die Verfügbarkeit von Arzneimitteln auswirken“. Er verwies auf ein Präparat gegen eine seltene Hauterkrankung – es ist die erste zielgerichtete Therapie für die Betroffenen. „Wir entwickeln hier dieses Mittel, was eine deutliche Wirksamkeit hat, es kriegt eine breakthrough designation in den USA, es kriegt den US-Preis für das beste pharmazeutische Produkt – und in Deutschland beurteilt der Gemeinsame Bundesausschuss das als ´kein Zusatznutzen` für Patientinnen und Patienten.“
Zum Hintergrund: In Europa zugelassene Medikamente mit neuem Wirkstoff durchlaufen hierzulande kurz nach Markteinführung das AMNOG-Verfahren – hierbei wird ihr Zusatznutzen gegenüber zuvor bereits verfügbaren Therapien geprüft. Das Prozedere hat sich etabliert – doch: „Es ist von 2011 und nicht mit der Zeit gewachsen“, findet der Boehringer-Deutschland-Chef. Die moderne Medizin wird immer zielgerichteter und personalisierter; Patient:innen-Gruppen werden kleinteiliger: Klassische Formen der Evidenzgenerierung wie große, randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) sind da nicht immer möglich – alternative Studienkonzepte sind gefragt. Doch das AMNOG-System lasse oft nicht zu, dass solch „wissenschaftliche Daten nach dem neuesten Stand“ in die Evidenzbetrachtung einbezogen werden, kritisierte Traulsen. Immer wieder führt diese unflexible Methodik dazu, dass bei neuen Arzneimitteln aus rein formalen Gründen kein Zusatznutzen anerkannt wird – das ist keine gute Ausgangslage für die anschließenden Preisverhandlungen der Unternehmen mit den Krankenkassen. Die Leidtragenden sind die Patient:innen, wenn Innovationen wie das Präparat von Boehringer Ingelheim hierzulande nicht (mehr) verfügbar sind.
Auf ein reformbedürftiges AMNOG trifft außerdem das relativ junge GKV-Finanzstabilisierungsgesetz, das bewährte Erstattungsregeln auf den Kopf gestellt hat: Es hat seit Ende 2022 zur Folge, dass pharmazeutische Unternehmen in vielen Fällen mit ihren Innovationen trotz Zusatznutzen keine höheren Preise im Vergleich zu Vorgängerpräparaten erzielen können. „Das sind Fehlentwicklungen, die wir als innovationsfeindlich betrachten“, erklärte Traulsen.
Pharma: In Deutschland tut sich was
Trotzdem investiere das Unternehmen „weiterhin und auch in Deutschland sehr stark: Boehringer Ingelheim hat über die vergangenen 5 Jahre hierzulande 2,9 Milliarden Euro in Gebäude und Infrastruktur gesteckt.“ Damit verbunden ist die „Hoffnung oder Erwartung“, dass der Standort auch in Zukunft attraktiv ist. Als „eine sehr schöne Entwicklung“ aus 2023 bezeichnete Traulsen die beschlossene Nationale Pharmastrategie. „Sie adressiert Dinge, die Deutschland in den vergangenen Jahren ins internationale Hintertreffen haben gelangen lassen“. Einige Punkte aus der Strategie sind bereits konkreter geworden: „Wir haben jetzt ein Digitalisierungsgesetz für das Gesundheitswesen: Doch wenn man sich andere europäische Länder anguckt wie Dänemark, Island oder Finnland, dann sind sie uns etwa 5 Jahre voraus.“ Sehr wichtig sei auch das Gesundheitsdatennutzungsgesetz, „weil es zum ersten Mal privaten Unternehmen […] einen Zugang zu Gesundheitsdaten geben soll.“ Das sei zumindest beschlossen – nun müsse es implementiert werden.
Und dann wäre da noch der Entwurf für ein Medizinforschungsgesetz, das jüngst durchs Kabinett gegangen ist. Es ist dazu gedacht, die Rahmenbedingungen für Forschung, Entwicklung und Produktion in Deutschland zu verbessern. Es widmet sich dem „Problem, dass wir in Deutschland von Platz 2 der Welt auf Platz 7 bei klinischen Studien zurückgefallen sind. Das sind Milliardeninvestitionen, die uns da durch die Lappen gehen“. Außerdem verlieren die Patient:innen Möglichkeiten, innovative Behandlungsansätze über Studien zu erhalten. Die Inhalte des Medizinforschungsgesetzes seien insgesamt „gut und richtig“. Werden sie tatsächlich umgesetzt, „können wir hoffentlich wieder aufholen.“
Klar ist aber auch: Es passt nicht zusammen, wenn auf der einen Seite Maßnahmen eingeführt werden, die Forschung und Entwicklung fördern sollen, und auf der anderen Seite ein reformbedürftiges AMNOG-System und ein GKV-Finanzstabilisierungsgesetz innovationsfeindlich wirken. „Die Forschungsaktivitäten werden dort gemacht, wo Medikamente zum Schluss auch in den Markt kommen“, stellte Traulsen klar.
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