„Arzneimittel sind unabdingbar für die Gesundheit der Menschen und wesentlicher Faktor des medizinischen Fortschritts. Die pharmazeutische Industrie ist ein Schlüsselsektor und eine Leitindustrie der deutschen Volkswirtschaft. Eine langfristig starke pharmazeutische Industrie ist für die Gesundheitsversorgung und den Wirtschaftsstandort von großer Bedeutung“, heißt es in der veröffentlichten Pharmastrategie der Bundesregierung. „Die Pharmabranche ist auch ein bedeutender Teil der kritischen Infrastruktur. Die pharmazeutische Industrie ist essentiell für die medizinische Versorgung und bedarf einer besonderen Betrachtung für Bedrohungen und Krisenlagen“.
In einer einleitenden „Problembeschreibung“ erkennt die Regierung an: „Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass der Forschungs- und Entwicklungsstandort Deutschland im internationalen Bereich an Attraktivität verloren hat“. Zusätzlich habe „die COVID-19-Pandemie die Vulnerabilitäten der Lieferketten verdeutlicht“ – mitsamt den entsprechenden Risiken für die Versorgung mit Arzneimitteln wie Antibiotika.
Pharmastrategie: Deutschland zukunftsfit machen
Die Regierung hat es sich mit der Pharmastrategie zum Ziel gesetzt, „die Attraktivität des Pharmastandorts Deutschland wieder zu erhöhen und auszubauen sowie eine zuverlässige Versorgung sicherzustellen“. Voraussetzung seien „verlässliche Rahmenbedingungen und damit vorhersehbare Marktgegebenheiten“. Denn nur „so werden pharmazeutische und biotechnologische Unternehmen ihre Investitionen in innovative Forschung, Entwicklung und Produktion in Deutschland tätigen“.
Die vorgeschlagenen Maßnahmen sind auf 8 Hauptpunkte aufgeteilt:
- Klinische Prüfungen von Humanarzneimitteln vereinfachen und beschleunigen: Geplant sind Maßnahmen, welche die Genehmigung und Durchführung von Arzneimittelstudien optimieren – Bearbeitungszeiten sollen zum Beispiel verkürzt werden. Das ist wichtig, denn Deutschland ist im internationalen Vergleich oft zu langsam; die Bürokratie wirkt als Hemmschuh der hiesigen Innovationskraft.
- Zulassungsbehörden stärken, Synergien bei Überwachungsbehörden schaffen: Auch hier geht es um eine Beschleunigung von Prozessen. „Hierfür bedarf es eines zentralen Projektmanagements mit gut abgestimmten und ausgestatteten Behörden“, heißt es.
- Stärkere Digitalisierung in der Gesundheitsversorgung vorantreiben: Deutschland hinkt hinterher – dabei hat die Nutzung von digitalen Gesundheitsdaten enormes Potenzial für Forschung und Medizin, welches es zu bergen gilt.
- Anreize zur Ansiedlung von Herstellungsstätten in der EU sowie Diversifizierung der Lieferketten: Die strategische Abhängigkeit von Drittstaaten wie China und Indien – insbesondere mit Blick auf die Herstellung von patentfreien Arzneimitteln – soll reduziert werden, indem zum Beispiel der Aufbau von Produktion in Deutschland attraktiver gemacht wird.
- Regulatorische Rahmenbedingungen schaffen, um EU-Wettbewerbsfähigkeit sicherzustellen: Im Gegensatz zu Diskussionen auf EU-Ebene spricht sich die Bundesregierung in ihrer Pharmastrategie für eine „umfassende Aufrechterhaltung des Systems geistiger Eigentumsrechte“ aus.
- Förderung von Innovations- und Forschungsprojekten: „Es bedarf Anreize, um mehr Kapital zu mobilisieren und zu kanalisieren“, heißt es. „Die steuerliche Forschungsförderung soll ausgebaut sowie die gezielte Förderung von Forschung und Entwicklung, Innovationen, Transfer und Gründungen soll weiterentwickelt werden.“
- GKV-Finanzstabilität; hier: Arzneimittelversorgung: Ziel sei es „verlässliche, nachvollziehbare und einfach umsetzbare Rahmenbedingungen bei der Preisbildung und Erstattung“ von neuen Medikamenten zu gewährleisten. „Gleichzeitig gilt es die Finanzstabilität der Gesetzlichen Krankenversicherung im Blick zu behalten.“
- Ausblick: Weitere Entbürokratisierung, Best-Practice-Dialog: „Bürokratievorgaben und Verwaltungsprozesse sollen entlastet werden“.
Pharmastrategie: Ein guter Anfang
Schneller, digitaler, entbürokratisierter, innovationsfreundlicher, verlässlicher: Die Zeit drängt, dass das im hiesigen Gesundheitssystem Realität wird. Mit dem geplanten Gesundheitsdatennutzungsgesetz soll erstmals auch die pharmazeutische Forschung Zugang zu den Daten des Forschungsdatenzentrums haben. „(Bio-)technologische Neuentwicklungen und die Anwendung neuer Therapien funktionieren nicht ohne Gesundheitsdaten“, erkennt die Politik in der Pharmastrategie an. Entgegen der EU-Kommission, die in ihrem Entwurf für ein EU-Pharma-Paket enorme Veränderungen beim sogenannten Unterlagenschutz von Arzneimitteln vorsieht, erklärt die Bundesregierung außerdem: „Deutschland setzt sich auf europäischer und internationaler Ebene dafür ein, dass die Schutzsysteme für geistige Eigentumsrechte nicht abgeschwächt werden. Deren ausgewogene Architektur ist Grundlage und Voraussetzung nachhaltiger Investitionen in Forschung und Entwicklung.“
Die Pharmastrategie kann ein Anfang sein, um den Forschungs- und Produktionsstandort Deutschland wieder zu stärken. Ob das gelingt, hängt jedoch davon ab, inwieweit sie tatsächlich umgesetzt wird. Denn alle im Papier „genannten oder sich daraus ergebenden Maßnahmen […] stehen unter Finanzierungsvorbehalt sowie unter dem Vorbehalt der finanzverfassungsrechtlichen Kompetenz/Zuständigkeit des Bundes“. Hinzu kommt: Einige der Vorschläge sind bislang äußerst unkonkret formuliert: So soll das Bundesfinanzministerium „Maßnahmen ergreifen, um die Finanzierungsbedingungen insbesondere für junge Unternehmen in Deutschland zu verbessern“. Klingt interessant – ist aber unspezifisch. Unklar bleibt zudem, welche weiteren Anreize die Politik für Arzneimittel wie Antibiotika, „bei denen ein Marktversagen besteht“, prüft. Auch „beabsichtigt“ die Bundesregierung „den Herstellerabschlag für erstattungsfähige Arzneimittel ohne Festbetrag auf dem Niveau von 7 Prozent zu stabilisieren“ – ein klares Bekenntnis ist das (noch) nicht.
Reaktionen auf die Nationale Pharmastrategie
In einer gemeinsamen Pressemitteilung der Bundesministerien für Gesundheit, für Forschung sowie Wirtschaft und Klima heißt es zur Pharmastrategie: „Damit werden die Rahmenbedingung für die Herstellung und Entwicklung von Arzneimitteln verbessert, die Digitalisierung im Gesundheitswesen vorangetrieben, Anreize für die Ansiedlung von Produktionsstätten in Deutschland gesetzt und Innovationsprojekte der Pharmaindustrie gefördert.“ Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger erklärte: „Deutschland kann im Pharmabereich auf eine sehr starke und erfolgreiche Grundlagenforschung aufbauen.“
Seitens des Pharmaverbands BPI sagte Dr. Kai Joachimsen, Hauptgeschäftsführer: „Die Mammutaufgabe bleibt, die Arzneimittelversorgung in ihrer Breite sicherzustellen und den für Deutschland und Europa enorm wichtigen Pharmastandort bei Forschung, Entwicklung und Produktion zu stärken. Wir müssen die Chance jetzt schnell nutzen, bevor der Zug abgefahren ist.“
Und Han Steutel, Präsident des Verbands der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa), findet: „Eine Strategie ist eine notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Entwicklung des Standorts. Das jetzt vorgelegte Konzept ist ein wichtiger und großer Schritt. Jetzt kommt es auf die Umsetzung und den Willen aller Beteiligter an.“
Gesundheitssystem: In der Politik tut sich was
Aus der Pharmastrategie lässt sich ein politischer Wille ablesen, Deutschland wieder an die Weltspitze im Pharmabereich zu holen. Und einiges ist bereits konkret in Arbeit: Neben dem „Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens“ liegt das „Gesetz zur verbesserten Nutzung von Gesundheitsdaten“ (Gesundheitsdatennutzungsgesetz) als Entwurf vor. Die Regierung plant zudem, noch im Jahr 2023 einen Entwurf für ein „Bürokratieentlastungsgesetz“ vorzulegen. Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach stellte jüngst außerdem die Grundzüge eines „Medizinforschungsgesetzes“ vor, mit dem einige der im Strategiepapier angekündigten Maßnahmen bald umgesetzt werden sollen: „Das Gesetz soll klinische Studien vereinfachen, beschleunigen, entbürokratisieren“, kündigte er an. „Damit wollen wir dafür sorgen, dass der Forschungs- und Produktionsstandort Deutschland in einigen Jahren an die Vereinigten Staaten anschließen kann“ (s. FAZ).
Was in der Pharmastrategie nur am Rande Bemerkung findet, ist das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG), das Anfang dieses Jahres in Kraft trat: Demnach soll die in dem Gesetz verankerte Reform der Erstattungsbetragsverhandlung von neuen Arzneimitteln („AMNOG-Reform“) mit Blick auf die Versorgung nicht nur 2023, sondern auch 2024 evaluiert werden. Das BMG hatte kürzlich ein erstes positives Fazit gezogen, wonach keine negativen Auswirkungen auf die Sicherheit der Arzneimittelversorgung ersichtlich seien. Die Regierungschefs der Länder sehen das im Übrigen anders und hatten Sorge geäußert. Und der Pharmaverband vfa hatte bereits im September davon berichtet, dass Arzneimittel in Folge der verschlechterten Erstattungsbedingungen „später oder gar nicht in Deutschland eingeführt“ werden. „Schon nach wenigen Monaten zeigen sich konkrete negative Folgen der Gesetzgebung für die Versorgung von Patient:innen und den innovativen Forschungs- und Produktionsstandort Deutschland.“ Das volle Ausmaß werde erst in den kommenden Jahren deutlich, „sofern jetzt keine Korrektur stattfindet.“ Insofern könnte das GKV-FinStG das Vorhaben der Pharmastrategie konterkarieren. Steutel fordert: „Weiterentwicklung der Erstattungsregeln und Korrektur innovationsfeindlicher Entscheidungen aus dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz“. Auf der einen Seite neue innovationsförderliche Maßnahmen einführen, während auf der anderen Seite ein Gesetz innovationsfeindlich wirkt: Das passt nicht zusammen.
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