Zwischen 2018 und 2021 haben 168 Medikamente die Zulassung in Europa erhalten. Sie stehen für zahlreiche neue Behandlungsmöglichkeiten: Darunter ist eine langwirksame HIV-Therapie, die jeden oder jeden zweiten Monat gespritzt statt täglich eingenommen werden muss – ein Meilenstein im Kampf gegen das Immunschwächevirus. Darunter sind auch zahlreiche Innovationen gegen seltene Erkrankungen – wie das allererste Medikament, das an der Wurzel der Wachstumsstörung Achondroplasie angreift (s. Pharma Fakten). Seit wenigen Jahren gibt es zudem eine Gentherapie, die den Muskelschwund bei Kindern mit der Spinalen Muskelatrophie (SMA) bremsen kann. Und: Präparate auf Basis der sogenannten CAR-T-Zell-Technologie. Sie geben neue Hoffnung bei bestimmten Blutkrebserkrankungen (s. Pharma Fakten) – die Betroffenen sind schwerkranke Patient:innen, bei denen es um Leben oder Tod geht.
Daher betont EFPIA-Generaldirektorin Nathalie Moll: „Krebs-Patient:innen […] haben nicht den Luxus, auf langwierige und unvorhersehbare gesetzgeberische Prozedere warten zu können, die letztlich keinen Unterschied in Bezug auf ihre Therapieoptionen machen werden“.
EU-Pharma-Paket: Gute Intention, falscher Weg
Von den 168 Medikamenten sind in Malta aktuell nur 10 (6 %) verfügbar bzw. erstattungsfähig. Der EU-Durchschnitt liegt bei 76 Präparaten (45 %). Am besten ist die Situation in Deutschland: Hier sind 147 Innovationen (88%) in der Versorgung angekommen (Stand: Januar 2023). Einheit in Europa sieht anders aus.
„Das ist kein tragbarer Zustand und die EU tut gut daran, dies politisch zu ändern“, findet Han Steutel, Präsident des Verbands der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa). Jüngst hat die EU-Kommission einen Entwurf für ein „Pharma-Paket“ vorgelegt – doch damit ist sie „auf dem regulatorischen Holzweg“, sagt Steutel. „Sie plant nämlich den sogenannten Unterlagenschutz aufzuweichen und als Anreizinstrument für die medizinische Versorgung zu nutzen. Das wird nicht funktionieren“. Konkret hat die EU-Kommission vor, den Unterlagenschutz von bisher 10 auf 8 Jahre zu verkürzen. 2 Jahre „on top“ sind möglich, wenn es einem Unternehmen gelingt, sein Präparat in allen 27 EU-Mitgliedsstaaten auf den Markt zu bringen.
Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht: „Im Ergebnis würde in Europa das Schutzniveau für geistiges Eigentum an Innovationen verschlechtert. Das würde uns im internationalen Standortwettbewerb schwächen, ohne innerhalb unseres Kontinents eine Angleichung des Versorgungsniveaus zu garantieren“, ist sich Steutel sicher. Und auch der Verband EFPIA schreibt: „Unternehmen zu bestrafen, indem man ihnen geistige Eigentumsrechte wegnimmt, falls ein Medikament nicht innerhalb von 2 Jahren nach Zulassung in allen Mitgliedsstaaten verfügbar ist: Das wird der Innovationskraft schaden und den Zugang [zu neuen Arzneimitteln] nicht verbessern – angesichts der Tatsache, dass die große Mehrheit an Verzögerungen nicht in den Händen der Firmen liegt.“
Langes Warten auf neue Arzneimittel: Multifaktorielle Ursachen
EFPIA verweist auf Daten aus dem European Access Portal – sie geben Einsicht, wie schnell neue Arzneimittel in die Versorgung gelangen. Das Portal ist noch jung – doch erste Trends legen nahe, dass drei Viertel (75%) der Verzögerungen nicht etwa durch verspätete Antragsstellungen seitens der Hersteller zustande kommen, sondern während die jeweiligen Präparate die nationalen Prozesse der Preisfindung und Erstattung durchlaufen.
In einer Root Causes Analysis stellt EFPIA zudem fest, dass die Ursachen dafür, dass Patient:innen (zu) lange auf neue Medikamente warten müssen, „multifaktoriell“ sind. Wenn es etwa auf nationaler Ebene Uneinigkeit zwischen den Firmen sowie den verschiedenen Behörden in Bezug auf die Frage gibt, wie und in welcher Form Evidenz zu einer Innovation zu erbringen ist, kann das dazu führen, dass Nutzenbewertung sowie Preisverhandlungen verzögert begonnen werden. Das ist besonders oft in Westeuropa der Fall. In Osteuropa sind eher fehlende Ressourcen für die Gesundheitssysteme das Problem: Notwendige Infrastruktur und medizinische Innovationen können aufgrund eines begrenzten Budgets nicht bzw. nur teilweise eingeführt werden. „Das zeigt: Es gibt keine Universallösung, um Zugangshürden zu beseitigen – es braucht regionale oder länder-spezifische Lösungen“, resümiert der europäische Pharmaverband. Oder anders gesagt: Die Unterschiede in der europäischen Arzneimittelversorgung sind zu groß, um sie mit einer einzigen, übergreifenden Gesetzgebung aus der Welt schaffen zu können.
„Wenn wir es wirklich ernst meinen mit dem gleichberechtigten Zugang zu Medikamenten und Impfstoffen in Europa, müssen sich alle Akteure an einen Tisch setzen“, betont Moll. Die unterschiedlichen Hürden lassen sich nur gemeinsam angehen. Die Unternehmen selbst haben sich bereits vergangenes Jahr dazu bekannt, die Anträge auf Preisfindung und Erstattung in allen EU-Staaten möglichst innerhalb von 2 Jahren nach Zulassung einzureichen – wenn die Gegebenheiten vor Ort das zulassen. Auch ist die Industrie zum Beispiel offen für neuartige Bezahlmodelle. Und sie schlägt der Politik ein System vor, bei dem sich der Preis eines Arzneimittels nach Wirtschaftskraft und Zahlungsfähigkeit einer Nation richtet.
Spitzenposition für Deutschland: In Gefahr
Übrigens: Dass in Deutschland Innovationen im Europa-Vergleich am schnellsten und umfangreichsten zur Verfügung stehen, ist keine Selbstverständlichkeit. Steutel, vfa, verweist auf das im vergangenen Jahr in Kraft getretene GKV-Finanzstabilisierungsgesetz: „Wir sehen bereits jetzt, dass starre Preisregelungen mit willkürlichen Abschlägen eine sachgerechte Honorierung von neuen Medikamenten verhindern. In der Konsequenz verzichten erste Unternehmen darauf, neue Arzneimittel auf den deutschen Markt zu bringen. Damit wird der erste Platz bei der innovativen Arzneimittelversorgung mittel- und langfristig nicht mehr zu halten sein“.
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