In Deutschland leben rund 100.000 von Kleinwuchs betroffene Menschen. Ihr größter Verband: der BKMF. Foto: ©iStock.com/YakobchukOlena
In Deutschland leben rund 100.000 von Kleinwuchs betroffene Menschen. Ihr größter Verband: der BKMF. Foto: ©iStock.com/YakobchukOlena

Kleinwuchs: „Vielfalt sollte selbstverständlich sein“

Rund 100.000 Menschen leben in Deutschland mit Kleinwuchs. Mit Patricia Carl-Innig und Florian Innig vom „Bundesverband Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien e. V.“ (BKMF) haben wir über die alltäglichen Herausforderungen der Betroffenen gesprochen – von immer höher werdenden Kassenbändern und Bankautomaten, über gesellschaftliche Normvorstellungen, bis hin zu Hürden in Sachen Inklusion.

Seit 1988 vertritt der BKMF die Interessen von Menschen mit Wachstumsstörungen: Etwa 3.500 Betroffene und Angehörige sind in dem Verband organisiert. Eine von ihnen ist Patricia Carl-Innig: Schon als Kind kam sie zum BKMF – heute ist sie ehrenamtliche Vorsitzende des Vereins. Frau Carl-Innig lebt mit einer der häufigsten Kleinwuchsformen – der sogenannten Achondroplasie. In Deutschland werden etwa 30 Kinder pro Jahr damit geboren. Insgesamt sind rund 650 verschiedene Kleinwuchsformen bekannt: Die Körperlänge „beginnt bei ca. 80 cm und endet laut Schwerbehindertenrecht in Deutschland bei 140 cm“, heißt es auf der Webseite des BKMF.

Patricia Carl-Innig. Foto: Andi Weiland / Gesellschaftsbilder.de
Patricia Carl-Innig. Foto: Andi Weiland / Gesellschaftsbilder.de

Auch Florian Innig engagiert sich seit vielen Jahren im Verband – inzwischen hauptamtlich. Zu verdanken ist das seiner von Achondroplasie betroffenen Schwester: „Sie sagte: Du musst mal zu einem Jahrestreffen mitkommen und erzählen, dass es eigentlich eine ziemlich normale Sache ist, so eine kleine Schwester zu haben.“ So kam es, dass die Beiden in einem Workshop aus ihrem Leben berichteten: „Wir sind ganz normale Geschwister, die sich mal streiten, aber mehrheitlich sehr gernhaben“. Zwischen ihnen stellte der Kleinwuchs nie ein Problem dar.

Menschen mit Kleinwuchs: „außer Konkurrenz“

Doch „die Gesellschaft wird immer größer“, erzählt Patricia Carl-Innig. Die Folgen: Autos werden größer, Bankautomaten höher. „In manchen Drogeriemärkten muss ich die Waren inzwischen auf meiner Kopfhöhe auf das Kassenband legen.“ Menschen mit Kleinwuchs sind permanent mit Durchschnittswerten und gesellschaftlichen Normvorstellungen konfrontiert. Das fängt schon im Säuglingsalter an – Stichwort: kinderärztliche Früherkennungsuntersuchungen. „Unsere Tochter ist nicht kleinwüchsig. Aber es ist schon unglaublich, wie stark Wachstums- und Gewichtskurven im ersten Lebensjahr eine Rolle spielen.“

Das „gesellschaftliche Streben nach mehr Größe“ betrachtet Patricia Carl-Innig jedoch so: „Im Prinzip laufen Menschen mit Kleinwuchs völlig außer Konkurrenz. Ich falle mit Achondroplasie so deutlich aus jeglichen Durchschnittsangaben heraus, dass es sich gar nicht lohnt, mich damit zu messen.“ Der BKMF hat zum Beispiel für Kinder mit Achondroplasie spezielle Wachstumskurven erstellt, um sie den Eltern und Kinderärzt:innen an die Hand zu geben.

BKMF: Selbsthilfe, Aufklärung, Inklusion

Außerdem bietet der BKMF Austausch in der Selbsthilfe, unterstützt Betroffene und Angehörige etwa bei Fragen rund um Diagnose, Pflegegeld oder Hilfsmittel, betreibt Aufklärung in der Gesellschaft. Er setzt sich für die bestmögliche medizinische Versorgung ein, unternimmt Forschungsprojekte und engagiert sich gemeinsam mit Dachverbänden wie der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen politisch. Mit großer Spannung erwarten Florian Innig und Patricia Carl-Innig auch die 8. World Dwarf Games im Jahr 2023, die der BKMF organisiert. Es ist ein Sportevent für kleinwüchsige Menschen – zuletzt fand es mit mehreren hundert Sportler:innen in Kanada statt, als nächstes in Deutschland. „Es ist ein Wettkampf auf Augenhöhe“, sagt Florian Innig.

Patricia Carl-Innig lebt mit einer der häufigsten Kleinwuchsformen: Achondroplasie. Foto: Andi Weiland / Gesellschaftsbilder.de
Patricia Carl-Innig lebt mit einer der häufigsten Kleinwuchsformen: Achondroplasie. Foto: Andi Weiland / Gesellschaftsbilder.de

Ein „Dauerbrenner“ ist für den BKMF das Thema Inklusion – in der Gesellschaft, in der Schule, am Arbeitsplatz. Es gebe nach wie vor keinen „standardisierten Ablauf“, kritisiert Patricia Carl-Innig. Zwar gebe es einen Anspruch, ein Recht auf Inklusion – doch die Umsetzung hänge allzu oft von dem Willen und der individuellen Bereitschaft der verantwortlichen Einzelpersonen ab. „Vielfalt sollte grundsätzlich selbstverständlich sein“, sagt sie. „Es ist notwendig, dass Betroffene nicht permanent auf den Kleinwuchs reduziert werden, damit sich jeder entfalten kann.“ Von „traumhaften Bedingungen“ spricht sie, wenn sich Kinder zum Beispiel in Schulen nicht jedes Mal erklären und rechtfertigen müssen.

Neue Aufgaben kommen auf den BKMF durch die jüngste europäische Zulassung eines ersten zielgerichteten Medikaments bei Achondroplasie zu: Es kann ab einem Alter von zwei Jahren zum Einsatz kommen. „Die Hoffnungen sind natürlich immens. Allein die Verfügbarkeit einer zugelassenen Arzneimitteltherapie ist schon etwas, was einen riesigen Unterschied macht“, meint Florian Innig. „Wir merken, dass die Nachfrage groß ist.“ Der BKMF klärt neutral auf, damit Eltern eine informierte, individuelle Entscheidung treffen können. Schließlich verschwindet die Diagnose mit neuen Wirkstoffen nicht. Somit ist eine Auseinandersetzung mit der Achondroplasie, die Akzeptanz der Diagnose sowie der Austausch mit anderen Betroffenen unverändert notwendig.

Achondroplasie: Ein Therapiefeld verändert sich

Der Hintergrund: Die Ursache der Achondroplasie ist eine Genmutation, die letztlich das Knochenwachstum hemmt und zu dysproportioniertem Kleinwuchs führt. Bis vor Kurzem gab es nur symptomatische Behandlungsmöglichkeiten. Auf einer Veranstaltung des forschenden Biotechnologie-Unternehmens BioMarin erklärte der Kinderarzt Prof. Dr. Klaus Mohnike, dass die Achondroplasie gesundheitliche Risiken mit sich bringe. Laut Mohnike haben die Kinder etwa sehr häufig Mittelohrentzündungen; auch ein Hörverlust ist möglich. Hinzu können unter anderem kardiovaskuläre Erkrankungen, schlafbezogene Atmungsstörungen, Adipositas sowie Schmerzen kommen. Aber: „Die Komplikationen sind beherrschbar“. Dazu brauche es einen interdisziplinären Behandlungsansatz, an dem Ärzt:innen aus verschiedenen Fachrichtungen beteiligt sind.

Mit der Zulassung des neuen Arzneimittels gibt es nun erstmals eine Therapie, die kausal wirkt. Das heißt: Sie greift konkret in die ursächlichen Vorgänge im Körper ein, die für die Achondroplasie verantwortlich sind. Prof. Dr. Frank Rutsch, ebenfalls Kinderarzt, berichtete auf der Veranstaltung von Ergebnissen einer internationalen Studie mit Kindern zwischen fünf und 18 Jahren: „Patienten, die das Medikament bekommen haben, wachsen im Durchschnitt 1,57 cm mehr pro Jahr als die, die es nicht bekommen haben.“ Und weiter: „Wenn Sie das hochrechnen, sind es bei fünf Jahren etwa 7,5 cm. Bei zehn Jahren wären es etwa 15 cm, die man an zusätzlichem Wachstum herausholen kann.“ Dabei sei es wichtig, die Behandlung so früh wie möglich zu beginnen.

Die Hoffnung ist zudem, dass man mit einer kausal wirksamen Therapie „auch einen Teil der physiologisch oder pathophysiologisch entstandenen Komplikationen angehen kann“, so Mohnike. Wissenschaftlich erwiesen ist das noch nicht – die Zeit wird es zeigen.

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