Wenn wir das Gesundheitswesen nicht schnellstens digitalisieren, wird die medizinische Versorgung in den kommenden Jahren in den Keller gehen. Foto: Deutscher Ethikrat
Wenn wir das Gesundheitswesen nicht schnellstens digitalisieren, wird die medizinische Versorgung in den kommenden Jahren in den Keller gehen. Foto: Deutscher Ethikrat

Digital unterstützte Medizin ist die bessere Medizin

Wenn wir das Gesundheitswesen nicht schnellstens digitalisieren und die Nutzung von Gesundheitsdaten und ihre Auswertung durch Künstliche Intelligenz (KI) vorantreiben, wird die medizinische Versorgung in den kommenden Jahren in den Keller gehen. Und zwar gleich aus mehreren Gründen.
Digitalisierung: Die Medizin wird besser
Digitalisierung: Prozesse beschleunigen. Foto: ©iStock.com/undefined undefined

Der Chef eines der größten Krankenhäuser in Europa drückt es so aus: Nur, wenn wir im Gesundheitswesen alles digitalisieren, was digitalisiert werden kann, werden kranke Menschen in ein paar Jahren überhaupt die Chance auf eine gute Versorgung haben. Professor Dr. Hejo Kroemer, Vorstandsvorsitzender der Charité, sieht das Land allein schon wegen des demografischen Wandels vor großen gesellschaftlichen Herausforderungen, weil „relativ wenige Menschen, die therapieren können, auf relativ viele Menschen treffen, die therapiebedürftig werden.“ Wer schon heute Probleme hat, einen Termin zu bekommen, hat eine Ahnung, was uns da bevorsteht.

Das ist der eine Aspekt der Digitalisierung: Sie kann Prozesse beschleunigen, Bürokratie übernehmen und dadurch Zeit freischaufeln, sie kann dafür sorgen, dass die richtigen Informationen zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort sind, und damit die medizinische Versorgung verbessern oder Menschen entlasten, die jetzt schon am Limit arbeiten. Dass sich der Fachkräftemangel in den nächsten Jahren ändern könnte, fällt in die Kategorie „Wunschdenken“: „Babyboomer hinterlassen Lücke im Arbeitsmarkt“, schreibt die Onlineplattform Statista – bis 2030 könnte die Zahl der Erwerbspersonen bereits um weitere 4 Millionen geschrumpft sein. 

Kurzum: Ohne ein digitalisiertes Gesundheitssystem wird das medizinische Niveau nicht zu halten sein. Das Mantra deutscher Gesundheitspolitik – „keine Leistungskürzungen in der medizinischen Versorgung“ – wird zur Leerformel, wenn nicht gegengesteuert, heißt: digitalisiert, wird.

Digitalisierung: Die Medizin wird besser 

Foto: Deutscher Ethikrat

Der andere Aspekt eines digitalisierten Gesundheitssystem: Die Nutzung von Patient:innen-Daten und KI in Versorgung und Forschung – und deren Verknüpfung – hebt die Medizin auf ein höheres Level. Digital unterstützte Medizin ist schlicht die bessere Medizin. Schon heute ist nachweisbar:

  • Die datengetriebene Onkologie verbessert die Chancen krebskranker Menschen, ihre Tumorerkrankung zu überleben. Sie kann „ein Segen für Menschen mit Krebs“ sein. Denn die Verknüpfung großer Datenmengen und das Erkennen von Mustern und Korrelationen haben Einfluss auf die Wahl der für das Individuum besten verfügbaren Therapie.
  • KI-Systeme unterstützen Ärzt:innen bei der Auswertung von Mammografie-Screenings und erzielen deutlich bessere Ergebnisse als erfahrene Radiolog:innen. Die Mammografie, deren Ziel es ist, Brustkrebs in möglichst frühem Stadium zu identifizieren, weil dann die Chancen einer erfolgreichen Therapie am größten sind, wird besser.
  • Auch beim Prostatakrebs können sich Expert:innen zunehmend auf die Leistungsfähigkeit von KI verlassen. In einer Studie konnte gezeigt werden, dass die Entdeckung behandlungsbedürftiger Karzinome von ca. 50 Prozent auf 90 Prozent erhöht wurde. Die frühe Entdeckung und Behandlung erhöhen die Überlebenschancen der Menschen beträchtlich.
  • Großes Potenzial wird KI-basierten Systemen in der Psychotherapie zugeschrieben. Dazu sind, so schreibt der Deutsche Ethikrat in seiner Stellungnahme „Mensch und Maschine – Herausforderungen durch Künstliche Intelligenz“, in den vergangenen Jahren „eine Fülle von Instrumenten zur (Teil-)Diagnose und Behandlung verschiedener psychischer Probleme entstanden.“ Ein großer Vorteil: Solche Apps können „angesichts ihrer Niedrigschwelligkeit und ständigen Verfügbarkeit Menschen in Erstkontakt mit therapeutischen Angeboten“ bringen, „die sonst oft zu spät oder gar keine Therapie erhalten.“ 

Der Bedarf solcher Anwendungen wächst: „Psychische Erkrankungen und Verhaltensstörungen stellten im Jahr 2021 die häufigste Ursache für stationäre Krankenhausbehandlungen von Kindern und Jugendlichen dar. Auch das berichtet Statista.

Ohne Datennutzung wird der medizinische Fortschritt ausgebremst

Professor Dr. Dr. Klaus Nagels von der Uni Bayreuth.
Professor Dr. Dr. Klaus Nagels von der Uni Bayreuth. Foto: privat

Aus der Forschung und Entwicklung neuer Arzneimittel und deren Anwendung ist die Digitalisierung nicht mehr wegzudenken. Ohne die intensive Nutzung von Gesundheitsdaten wird der medizinische Fortschritt ausgebremst.

Gerade die Möglichkeiten, die sich durch die Verknüpfung von Studiendaten aus kontrollierten klinischen Studien (RCTs) und den Versorgungsdaten (Real World Data, RWD) ergeben, sind riesig. Sie machen eine „Medizin in Echtzeit“ möglich, wie Professor Dr. Dr. Klaus Nagels von der Uni Bayreuth gegenüber Pharma Fakten betont. Er plädiert deshalb für ein neues Denken in der Arzneimittelforschung, die diese beiden Welten, die bis heute mehr oder weniger in getrennten Datensilos vor sich hinschlummern, miteinander verknüpft: „Patientinnen und Patienten könnten von einer wirklich patientenzentrierten Versorgung profitieren. Aus jedem Datensatz eines jeden behandelten Menschen können wir viel lernen, um die Behandlung zu optimieren und in Zukunft besser zu machen. Die Translationsgeschwindigkeit, also das Tempo, mit dem Forschungsergebnisse in der Versorgung ankommen, wird beschleunigt. Ärztinnen und Ärzte können zunehmend auf Evidenz-basierte Erkenntnisse zurückgreifen, weil Tiefe und Breite des medizinischen Wissens zunehmen. Für pharmazeutische Unternehmen ergeben sich wertvolle Erkenntnisse für Forschung, Entwicklung und Zulassung. Gewinnen tun eigentlich alle.“

„Datensparsamkeit“, wie das Professor Nagels mit Blick auf das deutsche System nennt, ist von gestern: Es existieren zwar Unmengen von Daten, die aber unter anderem mit dem Hinweis auf datenschutzrechtliche Bedenken nicht verknüpft werden können. Auch die Pandemie, die gerne als „Missing-Data-Krise“ bezeichnet wird, hat den Nachholbedarf Deutschlands gezeigt. Mit 2 Digitalgesetzen, die auf der politischen Bühne Berlins diskutiert und noch dieses Jahr verabschiedet werden sollen, will die Ampelregierung dieses Gap schließen. Es gibt Grund zur Hoffnung: „Mit diesen Gesetzen kann es einen Durchbruch geben“, erklärte Professorin Dr. Sylvia Thun von der Charité gegenüber Pharma Fakten.

Digitalisierung: Strenge Anforderungen an den Datenschutz

Professorin Dr. Alena Buyx
Professorin Dr. Alena Buyx. Foto: Deutscher Ethikrat_Reiner Zensen

Natürlich ist die Digitalisierung kein Problemlöser für alles und jedes. Der Deutsche Ethikrat hatte schon in seiner Stellungnahme zu „Big Data und Gesundheit“ im Jahr 2017 geschrieben, dass es ein „Missverständnis“ sei, „zu glauben, dass mehr Daten auch automatisch zu mehr Wissen über kausale Effekte führen“ könnten. Der Rat hat deshalb eine Reihe von Empfehlungen formuliert: So sollten medizinische KI-Produkte in enger Zusammenarbeit mit den Zulassungsbehörden entwickelt, erprobt und zertifiziert werden und höchsten Qualitätsanforderungen entsprechen. Das fordert auch Professor Nagels: Die Berechnung der Daten und ihre Analyse müsse „unter strengen evidenzbasierten Kriterien stattfinden.“ Denn: „Aus Gesundheitsdaten kann man auch viel Unsinn herauslesen.“

Klar positioniert hat sich der Ethikrat auch bei der Frage, ob KI-Systeme Mediziner:innen eines Tages ersetzen sollten: „Eine vollständige Ersetzung von Ärzt:innen durch ein KI-System gefährdet das Patientenwohl“, erklärte die Vorsitzende des Gremiums, Professorin Dr. Alena Buyx. Sie sei auch nicht dadurch zu rechtfertigen, „dass schon heute in bestimmten Versorgungsbereichen ein akuter Personalmangel besteht.“ Gleichzeitig betonte sie: „KI-Anwendungen, die nachweislich herkömmlichen Behandlungsmethoden überlegen sind, sollten allen einschlägigen Patientengruppen zur Verfügung stehen.“

Digitale Gesundheit: Debatte neu austarieren

Gesundheitsdaten und -schutz, Wohl der Patient:innen, Chancen und Risiken der Digitalisierung für eine bessere Medizin von morgen – die Debatte darüber muss neu austariert werden: Bisher gibt es einen Primat des Datenschutzes; behindern Bedenken über die Missbrauchsmöglichkeiten den Fortschritt. Die Frage darf aber nicht sein: Wie sichern wir den Schutz der Daten? Die Frage muss lauten: Wir sichern wir den medizinischen Fortschritt bei gleichzeitigem Schutz der Daten? Denn nur die digitalisierte Medizin macht eine patientenzentrierte, individualisierte und präzise Behandlung von Erkrankungen möglich.

Noch einmal Professorin Buyx: „Wir haben ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Aber gleichzeitig haben wir das Recht, am medizinischen Fortschritt teilzuhaben – es geht um Leid und Leben von Patientinnen und Patienten.“ 

Weiterführende Links:

Deutscher Ethikrat: „Mensch und Maschine – Herausforderungen durch Künstliche Intelligenz“, 2023.

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