Die digitale Transformation in der Medizin bietet für die Erforschung neuer Arzneimittel eine Riesenchance. Ein Gespräch mit dem Versorgungsforscher Prof. Dr. Klaus Nagels. Foto: ©iStock.com/Pornpak Khunatorn
Die digitale Transformation in der Medizin bietet für die Erforschung neuer Arzneimittel eine Riesenchance. Ein Gespräch mit dem Versorgungsforscher Prof. Dr. Klaus Nagels. Foto: ©iStock.com/Pornpak Khunatorn

Patientenzentriert, digital, evidenzbasiert: Arzneimittelforschung neu denken

Die digitale Transformation in der Medizin bietet für die breite Erforschung neuer Arzneimittel eine Riesenchance und kann ihre Entwicklung effizienter, aber auch patientenzentriert breiter und schneller machen. Die Translation von neuen Erkenntnissen in die Versorgung kann so schneller und umfassender gelingen. Auch die Rückkopplung in die Arzneimittelforschung erhöht die Chance auf optimale Versorgung. Deshalb müssen die Chancen der Digitalisierung jetzt voll genutzt werden, zumal es anders als in der Vergangenheit keine technischen Restriktionen mehr gibt. Auch erforderliche Ressourcen sind vorhanden. Wir können eine Verzögerung der ethischen Translation von Erkenntnissen in den Versorgungsalltag weder begründen noch tolerieren, sagt Professor Dr. Dr. Klaus Nagels, Lehrstuhlinhaber für Medizinmanagement und Versorgungsforschung an der Uni Bayreuth. Er plädiert für ein neues Denken in der Arzneimittelforschung.

Herr Professor Dr. Dr. Nagels, ein neues Denken in der Arzneimittelforschung – das klingt gut. Was meinen Sie damit?

Professor Dr. Dr. Nagels: In der Forschung und Entwicklung neuer Arzneimitteltherapien setzen wir auf die randomisierte klinische Studie (RCT). Das heißt, wir vergleichen eine Substanz mit einer anderen oder einem Scheinmedikament. Randomisierung bedeutet die Zuteilung der Prüflinge nach dem Zufallsprinzip, um Einflussnahmen und Ergebnisverzerrungen zu vermeiden. Kontrolliert heißt: Es gibt einen Kontrollarm. Dieser ist der Maßstab, an dem sich die neue Substanz und ihre Bedeutung für die Versorgung messen lassen muss. RCTs gelten – zu Recht – als der Goldstandard. Aber sie haben Grenzen.

Versorgungsforscher Prof. Dr. Dr. Klaus Nagels
Versorgungsforscher Prof. Dr. Dr. Klaus Nagels. Foto: privat

Welche?

Nagels: Sie bilden aus Machbarkeitsgründen – das sind zum Beispiel die Zahl rekrutierbarer Patienten, der Faktor Zeit, die Finanzierung – bewusst nur einen kleinen Teil der komplexen Wirklichkeit in der medizinischen Breitenversorgung ab („real world“). Sie finden in einem streng kontrollierten Umfeld mit streng selektierten Patientengruppen statt. Das bedeutet: Nach der Zulassung aufgrund von klassischen klinischen Studien starten wir mit einer evidenzbasierten Arbeitshypothese in die Versorgung, die uns sagt, was ein Medikament in der realen Versorgung wahrscheinlich bewirken kann oder nicht. Aber RCTs können per Definition den Versorgungsalltag in der realen Welt nur sehr eingeschränkt abbilden.

Warum ist das so?

Nagels: Weil sich der Kreis derer, die das neue Medikament einnehmen, plötzlich vervielfacht. Bei Zulassung haben wir Daten zur „Efficacy“: Damit sehen wir die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Wirkung zustande kommt. Was uns aber eigentlich interessiert ist die „Effectiveness“: Hält der Wirkstoff in der Realität, was er in den Studien verspricht, wenn Faktoren wie zusätzliche Erkrankungen, höheres Lebensalter und parallel einzunehmende Medikationen hinzukommen? Gibt es vielleicht Signale über Wechsel- und Nebenwirkungen, die so selten sind, dass wir sie erst sehen können, wenn sehr viele Menschen behandelt werden? Gibt es positive Effekte bei Patientengruppen, die gar nicht Teil der Studien waren, welche eine Chance darstellen, kranke Menschen besser zu behandeln?

Das sind die Versorgungsdaten…

Nagels: Genau. Sie entstehen überall dort, wo Menschen behandelt werden. Der Punkt ist: Die RCTs zeigen das klinische Potenzial eines neuen Wirkstoffes. Aber erst durch die Verknüpfung mit den Daten aus der Versorgung können wir zeigen, ob es wirklich für alle Patienten funktioniert. Wir haben einerseits die Daten aus den klinischen Studien. Und wir haben andererseits zunehmend Daten aus der Versorgung, die Real World Data (RWD). Wenn wir diese sinnvoll strukturieren und verknüpfen, entsteht daraus die Real World Evidence (RWE); sprich: medizinische Evidenz, die sich aus der Auswertung der Versorgungsdaten ergibt. Das ist aber kein Automatismus. Vielmehr sind die methodischen Anforderungen für verwertbare Evidenz extrem hoch. Datenströme aus unterschiedlichen Quellen müssen entsprechend zusammengeführt und verarbeitet werden. Das sehen auch die Zulassungsbehörden mittlerweile so.

Damit sind wir bei Ihrem RCT-RWE-Konfluenzmodell: Sie wollen diese beiden Datenwelten miteinander vernetzen?

Patientenzentrierte und digitale Patientenversorgung
Daten aus der Versorgung: Die Real World Data. Foto: ©iStock.com/Pornpak Khunatorn

Nagels: Darum geht es: die Umsetzung voranbringen. Um ein Bild zu zeichnen: Die Daten aus den klinischen Studien sind wie das Blickfeld, das in Suchscheinwerfer erzeugt. Er leuchtet messerscharf aus, was wir sehen wollen und für die Zulassung brauchen. Nehmen wir die Daten aus der Versorgung hinzu, ist das, als ob wir das Flutlicht anschalten. Plötzlich sehen wir das ganze Spielfeld. Wir entdecken Zusammenhänge und neue Stellschrauben, die wir bisher nicht gesehen haben. Wir können Diagnostik und Therapien besser machen, wir können Behandlungserfolge erzielen, die vorher nicht möglich waren, denn wir können evidenzbasiert Erkenntnisse über die optimale Abfolge oder Kombinationen von Therapien schneller erzeugen und breit in die Versorgung einbringen. In der Pandemie hat die Konfluenz von RCT-RWE bereits die Zulassung und Anwendung von antiviralen Medikamenten zur COVID-19-Behandlung bereichert. Ein klassisches RCT-basiertes Vorgehen hätte uns die Ergebnisse erst nach der Pandemie geliefert.

Aber geschieht das nicht längst? Allein schon aus Sicherheitsaspekten werden doch Daten aus der Versorgung – im Rahmen der so genannten Pharmakovigilanz – erhoben.

Nagels: Im Prinzip zeigt genau dieses System, dass es geht. . Aber mit Blick auf die reale Versorgungswelt, also das voll ausgeleuchtet „Spielfeld“, müssen wir das jetzt systematisch aufsetzten, so wie es ja in einigen Ländern schon praktiziert wird. Im Fußball ist das voll umgesetzt: digitale Aufzeichnung und Auswertung, systematische Analyse von Spielverläufen und deren Bedeutung für das nächste Spiel, die Mannschaftsaufstellung usw. Was das Konfluenz-Modell aber erst möglich macht, ist der technische Schub durch die Digitalisierung. Die Möglichkeit, dass wir sehr große Mengen von Daten speichern, verarbeiten, sinnvoll miteinander verknüpfen können, um daraus wissenschaftliche fundierte Schlüsse zu ziehen, gibt es ja noch nicht so lange. Aber dass das funktioniert, zeigt eine erste Zulassung eines Arzneimittels in den USA, das nur aufgrund von Datenanalysen aus Patientenakten und Postmarketing-Studien zugelassen wurde: ein Präparat zur Behandlung von Brustkrebs beim Mann. In den USA und in Japan gibt es mittlerweile eine ganze Reihe von Wirkstoffen, bei deren Zulassung Real World Evidence bereits eine wichtige Rolle gespielt hat. In Europa ist man noch reservierter. Damit wir Gesundheitsinformationen nutzen können, muss eh noch viel passieren.

Was meinen Sie?

Straßenverkehrsordnung für Gesundheitsdaten
Es braucht eine Straßenverkehrsordnung für Gesundheitsdaten. Foto: ©iStock.com/ra2studio

Nagels: Gesundheitsdaten kann man nicht einfach so nutzen. Sie müssen vereinheitlicht und strukturiert werden, damit Computer sie verarbeiten können. Sie müssen zusammengeführt werden, denn sie entstehen ja dezentral – nämlich dort, wo sich Versorgung im Alltag auswirkt bzw. präsent ist, eben auch zu Hause oder beim Sport. Wir müssen unzählige Dateninseln miteinander verknüpfen. Die notwendige Infrastruktur steht – wenn überhaupt – nur rudimentär. Wir brauchen eine Art von Straßenverkehrsordnung, die klar definiert, wer in welchem Umfang Daten nutzen darf. Wir müssen massiv in Datensicherheitskonzepte investieren. Aber selbst, wenn die entsprechende Infrastruktur in Form von integrierten Forschungsnetzwerken stehen sollte, muss die Berechnung der Daten und ihre Analyse unter strengen evidenzbasierten Kriterien stattfinden. Aus Gesundheitsdaten kann man auch viel Unsinn herauslesen.

Ein dickes Brett, dass Sie da bohren wollen…

Nagels: Ja, aber eines, dass sich zu bohren lohnt. Patientinnen und Patienten könnten von einer wirklich patientenzentrierten Versorgung profitieren. Aus jedem Datensatz eines jeden behandelten Menschen können wir viel lernen, um die Behandlung zu optimieren und in Zukunft besser zu machen. Die Translationsgeschwindigkeit, also das Tempo, mit dem Forschungsergebnisse in der Versorgung ankommen, wird beschleunigt. Ärztinnen und Ärzte können zunehmend auf evidenz-basierte Erkenntnisse zurückgreifen, weil Tiefe und Breite des medizinischen Wissens zunehmen. Für pharmazeutische Unternehmen ergeben sich wertvolle Erkenntnisse für Forschung, Entwicklung und Zulassung. Gewinnen tun eigentlich alle. Selbst eine Medizin in Echtzeit wird möglich.

Eine Medizin in Echtzeit?

Nagels: Unsere medizinische Forschung ist eher retrospektiv ausgerichtet. Stark vereinfacht geht es nach dem Motto: Was haben wir gemacht und was ist dann passiert? Durch die Verknüpfung von Studien- und Versorgungsdaten müssen wir aber nicht mehr bis zum Ende einer Studie und deren Auswertung warten. Ein Beispiel: Mit diagnostischen Tools wie Liquid Biopsy, also der Flüssigbiopsie, ist es möglich, Tumor-DNA im Blut zu identifizieren. Der Vorteil ist, dass bei Patienten, bei denen behandlungsbedingt kein Tumorgewebe mehr nachweisbar ist, durch ein solches Verfahren festgestellt werden kann, ob der Tumor noch aktiv ist: Das ermöglicht eine sofortige Fortsetzung der Therapie, weil die Erkenntnis, dass der Krebs nicht besiegt ist, nicht von der Feststellung abhängt, dass wieder Tumorgewebe nachgewachsen ist. Das ist Medizin in Echtzeit. Im Fall von Krebs kann das eine Frage von Leben oder Tod sein.

Was muss passieren, um Ihr Modell umzusetzen?

Chancen der Nutzung unserer Gesundheitsdaten
Große Chancen bei der Nutzung unserer Gesundheitsdaten. Foto: ©iStock.com/alphaspirit

Nagels: Zunächst brauchen wir ein Umdenken. Unsere Datensparsamkeit ist realitätsfern. Wir überbetonen die Risiken von Datensicherheit und haben noch nicht verinnerlicht, welche Chancen in der Nutzung unserer Gesundheitsdaten stecken. Seit vielen Jahren wird der Fokus auf die Patienten gepredigt. Die Digitalisierung macht das möglich. Die Berliner Erklärung zur Digitalisierung der Medizin, unterschrieben von Medizinern, Berufsverbänden und Unternehmen, hat den Weg in die digitale Medizin in einem 7-Punkte-Katalog zusammengefasst. Dort wird der Aufbau einer öffentlichen Infrastruktur gefordert – unter Berücksichtigung der Datensicherheit und dem Selbstbestimmungsrecht der Bürgerinnen und Bürger. Dabei muss auch der Zugang zu den Daten geklärt werden; also die Frage, wer anonymisierte Gesundheitsinformationen überhaupt nutzen darf. Nach den bisherigen Plänen ist der privaten Gesundheitswirtschaft, also den Entwicklern und Herstellern von Diagnostika und Arzneimitteln, der Zugang nicht gestattet. Das ist eine politische Entscheidung mit dem Kollateraleffekt, dass die Unternehmen, die in diesem Land rund 80 Prozent der klinischen Studien durchführen, solche Daten für ihre Forschungen nicht nutzen dürfen. Das ist absurd.

Warum tun wir uns in Deutschland so schwer mit der Digitalisierung?

Nagels: Da kommt verschiedenes zusammen – auch Mentalitäten spielen eine Rolle. Doch das Entscheidende ist: Unser Gesundheitssystem steht unter einem gewaltigen Reformdruck. Nur: Kostensparprogramme nach Rasenmäher-Methode sind ja noch keine Reform. Wir müssen strukturell etwas ändern. Wir sehen einen steigenden Versorgungsbedarf, wir sehen sich verknappende Ressourcen und eine steigende Komplexität durch einen Innovationsschub in Therapie und Diagnostik. Das klinisches Entscheidungsmanagement muss stärker digital gestützt werden, und zwar evidenzbasiert und am „Point-of-Care“, also da, wo Versorgung stattfindet. Das Konzept der „Living Guideline“ ist mit einer „Living R&D“ zu verknüpfen. Wir müssen umsteuern, um effizienter und vor allem schneller zu werden. Und das können wir, wenn wir die Digitalisierung endlich beherzt anpacken.

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