Die EU hat beschlossen, einen europäischen Raum für Gesundheitsdaten für Menschen und Wissenschaft zu schaffen. Was hat es damit auf sich?
Dr. Martin Vocks: Die Europäische Kommission hat 2020 das Ziel ausgerufen, insgesamt neun sektorale Datenräume zu schaffen – einer davon betrifft das Thema „Gesundheit“. Die Corona-Pandemie sorgte dann nochmals für zusätzlichen Schub – denn es wurde deutlich, welchen enormen Wert Daten bei der Krankheitsbekämpfung und der Gesundheitsvorsorge haben können. Im Frühjahr 2022 wurde dann ein Verordnungsentwurf für den EHDS veröffentlicht, der jetzt ins Gesetzgebungsverfahren geht.
Wofür ist dieser Datenraum nützlich?
Vocks: Grob zusammengefasst verfolgt er drei Ziele: Die Menschen in der Europäischen Union sollen grundsätzlich in allen Mitgliedstaaten einen möglichst reibungslosen Zugriff auf medizinische Versorgung haben und auf die Gesundheitsdaten, die sie dafür benötigen – also nicht nur im Heimatstaat, sondern auch in allen anderen EU-Ländern. Das zweite Ziel betrifft Wissenschaft und Forschung. In der Europäischen Union leben rund 450 Millionen Menschen. Dementsprechend entstehen laufend ganz erhebliche Mengen verschiedenster Gesundheitsdaten. Dieser Datenschatz soll gehoben und der Wissenschaft zugänglich gemacht werden – für Forschungsprojekte im akademischen Bereich, aber auch in der pharmazeutischen Industrie. Diese Daten können zum Beispiel dazu beitragen, Impfstoffe und neue Behandlungsmethoden zu entwickeln. Und drittens geht es um einen Punkt, der im Entwurf gar nicht ausdrücklich genannt wird, aber implizit mitschwingt: Die Digitalisierung des Gesundheitswesens in den Mitgliedstaaten der EU.
Klingt logisch, dass es für einen europäischen Datenraum auch ein gewisses Maß an Digitalisierung braucht.
Vocks: So ist es, zumal sich in der EU derzeit ein sehr unterschiedliches Bild zeigt: Einige Mitgliedstaaten sind weit voraus, in anderen gibt es bisher nur erste Ansätze bei der Digitalisierung des Gesundheitsbereichs. In knapp zwei Dritteln der EU-Mitgliedstaaten gibt es elektronische Patientenakten und elektronische Verschreibungen. Andererseits wickeln elf Länder ihr Gesundheitssystem noch mehr oder weniger vollständig auf Papier ab. Die Verordnung, die jetzt vorgelegt wurde, definiert immerhin einen Mindeststandard, der für alle gelten soll.
Wo steht Deutschland in Sachen Digitalisierung?
Vocks: Von Deutschland heißt es immer, dass es hier noch ziemlich ruckelt mit der Digitalisierung der medizinischen Versorgung. Leider kann man das tatsächlich nicht anders sagen. Immerhin werden Dinge wie die elektronische Patientenakte oder das E-Rezept seit einigen Jahren etwas ernsthafter vorangetrieben – aber im Alltag angekommen sind sie bisher nicht. Es gibt hier unter anderem recht komplexe datenschutzrechtliche Probleme und auch noch ungelöste Fragen bei der IT-Sicherheit. Alles in allem befindet sich Deutschland damit im europäischen Vergleich eher in der unteren Hälfte. Andere Mitgliedstaaten, etwa Estland, sind da ohne Frage ein gutes Stück weiter.
Keine gute Grundlage für die Teilnahme am EHDS, oder?
Vocks: Immerhin hat die Bundesregierung eine Digitalstrategie verabschiedet, die vorsieht, insgesamt 18 Projekte nach vorne zu bringen – eines davon ist die elektronische Patientenakte. Bis 2025 sollen mindestens 80 Prozent aller gesetzlich Versicherten eine elektronische Patientenakte haben und sie auch nutzen.
Klingt ambitioniert.
Vocks: Das ist ambitioniert, aber nicht zuletzt der Aufbau des europäischen Gesundheitsdatenraums erfordert dies. Man muss in wenigen Jahren den europäischen Digitalisierungs-Anforderungen genügen. Bei der Patientenakte ist allerdings schon etwas Skepsis angebracht. Bisher nutzen sie rund 0,5 Millionen von insgesamt rund 71 Millionen gesetzlich Versicherten – in den kommenden drei Jahren müssten also mindestens 55 Millionen Versicherte hinzukommen.
Wo liegt das Problem bei der Digitalisierung von Gesundheitsdaten?
Vocks: Es gibt, stark vereinfacht gesagt, zwei grundsätzliche Voraussetzungen, um Digitalisierungsprozesse im Gesundheitswesen erfolgreich zu gestalten: Die Technik und das Vertrauen. Die Technik muss sicher sein, denn Gesundheitsdaten gehören aus datenschutzrechtlicher Sicht zu den heikelsten Daten, die es überhaupt gibt. Und was das Vertrauen angeht: Die Bereitschaft der Bevölkerung, digitale Gesundheitsprodukte zu nutzen, ist nicht selbstverständlich. Das hat sich zuletzt wieder in der Corona-Pandemie gezeigt, wenn man etwa an die verbreitete Skepsis gegenüber der Corona-Warn-App und ähnlichen Lösungen denkt. Die Menschen sind da sehr sensibel, und das auch zurecht. Sie wollen technische Lösungen, denen sie vertrauen können.
Inwiefern verbessert der EHDS die Gesundheitsversorgung in Europa? Was haben die Patient:innen davon?
Vocks: Der EHDS soll Patientinnen und Patienten sowie den Angehörigen der Gesundheitsberufe einen möglichst effizienten Zugriff auf diejenigen Gesundheitsdaten ermöglichen, die für die Behandlung benötigt werden. Ein Beispiel: Wenn ich in Portugal zum Arzt gehe und dieser auf meine Patientendaten zugreifen kann, dann kann er sofort mit der Behandlung beginnen – ohne, dass ich vorher meine ganze Krankheitsgeschichte auf Portugiesisch schildern muss. Noch wichtiger: Es gibt mit der Einführung des EHDS tatsächlich, zumindest mittelbar, ein Recht auf Digitalisierung der Gesundheitsdaten. Die Verordnung sieht vor, dass bestimmte Mindestdaten in elektronischer Form vorhanden sein müssen – zum Beispiel Patientenakten, elektronische Verschreibungen, medizinische Bilder und Bildbefunde, Laborergebnisse, Entlassungsberichte. Das erleichtert und verbessert die Behandlung.
Und wie können Forschende diese Daten nutzen?
Vocks: Es wird in jedem Mitgliedstaat eine Zugangsstelle für Gesundheitsdaten geschaffen, an die man sich wenden kann, wenn man mit diesen Daten forschen möchte. Das wird insbesondere relevant sein für Pharma-Unternehmen, Universitäten oder Forschungsinstitute – also die etwas größeren Akteure. Prinzipiell kann aber jeder einen Antrag stellen, dass er Daten haben und damit forschen möchte. Die Daten müssen dann laut der EHDS-Verordnung vom so genannten „Dateninhaber“ bereitgestellt werden – dies werden in der Praxis vor allem größere Gesundheitsdienstleister oder Forschungseinrichtungen sein, oder andere Akteure, die durch ihre Arbeit über entsprechende Gesundheitsdaten verfügen.
Gilt das auch, wenn etwa eine Versicherung die Vorerkrankungen ihrer Antragstellenden erforschen möchte?
Vocks: Nein. Der Verordnungsentwurf formuliert ausdrücklich einen Katalog an Forschungszwecken, die zulässig sind, und an Forschungszwecken, die nicht zulässig sind.
Zulässig wäre…
Vocks: …zum Beispiel Bildungs- oder Lehrtätigkeit, wissenschaftliche Forschung, Innovation im Bereich des Gesundheits- oder Pflegesektors. Daten dürfen auch zur Erprobung und Bewertung von Algorithmen und KI-Anwendungen im Gesundheitssektor genutzt werden. Oder zur Unterstützung von öffentlichen Stellen – wenn also politische Akteure auf der Grundlage von Gesundheitsdaten politische Entscheidungen treffen wollen.
Nicht zulässig…
Vocks: …ist insbesondere die Verwendung von Daten für Werbe- und Vermarktungszwecke. Auf der Negativliste steht auch die Entwicklung von Produkten, die gesundheitsschädlich sein können, wie Tabak oder Alkohol. Und auch einer natürlichen Person darf kein Schaden entstehen – die Daten dürften also, um nochmals Ihr Beispiel aufzugreifen, auf keinen Fall verwendet werden, um Entscheidungen über den Versicherungstarif einer bestimmten Person zu treffen.
Wer entscheidet darüber, ob ein Antrag positiv oder negativ beschieden wird?
Vocks: Die bereits erwähnte Zugangsstelle, die in jedem EU-Staat benannt wird. Sie bewertet die Forschungszwecke und erteilt im positiven Falle eine Genehmigung, in der genau festgelegt ist, zu welchen Zwecken, in welchem Umfang und mit welchen Daten geforscht werden darf. Wichtig ist auch: Es handelt sich grundsätzlich um anonymisierte Daten. Falls die Forschung mit anonymen Daten nicht durchführbar ist, werden sie zumindest pseudonymisiert. Zudem sind detaillierte Sicherheitsvorkehrungen vorgesehen, damit die Daten geschützt sind und keinen Dritten zugänglich gemacht werden können. Die EHDS-Verordnung sieht etwa vor, dass die Gesundheitsdaten in einem besonders geschützten Datenraum bereitgestellt werden, zu dem die Forscherinnen und Forscher dann Zugang bekommen – die Daten können also nicht beliebig heruntergeladen und dann für andere Zwecke genutzt werden. Es bleibt zwar ein gewisses Restrisiko, insbesondere bei der Erforschung seltener Krankheiten, wo es nur wenige Betroffene gibt und nicht ausgeschlossen ist, dass man im Einzelfall die Daten wieder deanonymisieren kann. Aber das wird nicht der Regelfall sein.
Wie sieht der Zeitplan für die Umsetzung des EHDS aus?
Vocks: Der Zeitplan ist sehr ambitioniert. Das Gesetzgebungsverfahren soll bis Ende 2023 abgeschlossen werden. Danach ist eine Frist von zwölf Monaten vorgesehen, in der die Mitgliedstaaten die Voraussetzungen für den EHDS schaffen müssen. Das ist extrem kurz, zumal bei einem so umfangreichen und differenzierten Gesetzeswerk wie der EHDS-Verordnung. Man darf auch nicht vergessen: Bisher liegt nur ein Entwurf für die EHDS-Verordnung vor. Im Gesetzgebungsverfahren müssen aber auch das Europäische Parlament und der Rat der EU zustimmen. Aus Brüssel ist zu hören, dass es hier wohl noch ganz erhebliche Vorbehalte gibt, sowohl im europäischen Parlament als auch im Rat der EU. Es dürfte also noch zähe Diskussionen und vermutlich auch größere Änderungen am derzeitigen Verordnungsentwurf geben. Ich bin daher skeptisch, ob der EHDS wirklich schon 2025 etabliert sein wird – das Gesetzgebungsverfahren kann sich durchaus auch noch ein bis zwei Jahre länger hinziehen.
Wie viel kostet der EHDS und wer bezahlt ihn?
Vocks: Die Europäische Kommission will etwas über 800 Millionen Euro dafür bereitstellen. Sie weist aber auch darauf hin, dass es weitere Töpfe gibt, in denen bereits 10 bis 12 Milliarden Euro für die Digitalisierung der nationalen Gesundheitssysteme vorgesehen sind – auch ein Großteil dieser Summe kann von den Mitgliedstaaten für den Aufbau des EHDS verwendet werden. Auf der anderen Seite hat die Kommission berechnet, dass durch den EHDS über zehn Jahre hinweg 11 Milliarden Euro eingespart werden könnten. 5,5 Milliarden davon entfallen auf die erleichterte Zusammenarbeit im Gesundheitswesen. Durch Forschung, Innovation und Politikgestaltung werden weitere 5,4 Milliarden eingespart. Solche Schätzungen sind immer mit etwas Vorsicht zu genießen, aber insgesamt lässt sich sagen, dass der EHDS auch ökonomisch großes Potenzial hat.
Kann der EHDS als Beschleuniger der Digitalisierung wirken?
Vocks: Ja, eindeutig. Der europäische Gesetzgeber hat für den EHDS die Form einer Verordnung gewählt – und das ist ein relativ scharfes Schwert, denn Verordnungen sind in allen EU-Staaten geltendes Recht, das notfalls auch gerichtlich durchgesetzt werden kann. Die Zeit politischer Absichtserklärungen ist damit ein Stück weit vorbei. Bestimmte Mindestanforderungen an ein digitalisiertes Gesundheitswesen sind künftig rechtlich verbindlich.
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