„Zeitenwenden“ haben momentan Konjunktur. Laut bedeutungsonline.de steht der Begriff für „ein Ende eines Zeitalters und den Beginn eines neuen Zeitalters.“ Klingt hochtrabend, doch gehe es meist „eher um Aufmerksamkeitsökonomie und weniger um wirkliche Inhalte.“ Entscheidend ist: Wer den Begriff benutzt, will eine Zäsur. Oder will zumindest diesen Eindruck erwecken.
Was das mit dem Gesundheitswesen zu tun hat? Auf dem Gipfeltreffen der Gesundheitsexpert:innen in Deutschland, dem Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit (HSK) in Berlin, wurde deutlich: Ein paar Reförmchen hier und da werden es nicht richten. Es muss ein beherztes Umsteuern geben – wenn man schon das Wort „Zeitenwende“ nicht benutzen will.
Gesundheitssystem: Strukturreformen statt Löcher stopfen
Doch genau das sieht Wolfgang Branoner mit Sorge. Der ehemalige Berliner Wirtschaftssenator und heute Geschäftsführender Gesellschafter der Beratungsfirma SNPC, sagt mit Blick auf den Koalitionsvertrag: „Festgelegt wurden Investitionen in Höhe von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung, drei Prozent für Forschung und Entwicklung. Aber für Gesundheit? Nichts.“ Das Problem dabei: Strukturelle Reformen kosten erstmal Geld, bevor sie Ersparnisse bringen. Auch eine Umstellung auf ein präventiv wirkendes statt in der ersten Linie „reparierendes“ Gesundheitssystem setzt zunächst Investitionen voraus – deren Früchte sich im Einzelfall erst in vielen Jahren zeigen werden. „Ein bisschen Nachbessern hier und da hilft längst nicht mehr. Aber wenn in dieser Legislaturperiode nichts mehr geht, dann verlieren wie wieder 5 – 10 Jahre.“ Von dem, was der Bundesgesundheitsminister als Entwurf für ein GKV-Finanzstabilisierungsgesetz vorgelegt hat, hält Branoner nicht viel. Er sagt voraus: „Die dort vorgelegten Maßnahmen reichen ja nicht mal, um die Löcher zu stopfen.“ Die Finanzprobleme der Kassen würden nur verschoben, nicht behoben. Und dass der Entwurf überhaupt in dieser Form ins Kabinett kommt? Darauf wettet im gesundheitspolitischen Berlin momentan niemand, der an seinem Geld hängt.
Branoner hat mit verschiedenen Expert:innen das „White Paper für ein zukunftsfähiges Gesundheitswesen“ entwickelt; ein Prozess, den auch das forschende Pharma-Unternehmen Pfizer unterstützt. In sieben Punkten wird dort aufgezählt, was sich ändern müsste, damit das Gesundheitssystem leistungs- und zukunftsfähig bleibt. Zentrale Leitlinie für die sieben Vorschläge ist die Patientenorientierung, heißt es in dem Papier. Dies dürfe aber nicht zur „Phrase im gesundheitspolitischen Diskurs“ verkommen. Jede der Maßnahmen muss sich an der Einbindung der Patient:innen-Perspektive messen lassen.
Gesundheitswesen: Digitalisierung umsetzen
Natürlich ist die Digitalisierung ein Thema; in Ziel 5 heißt es dazu knapp: „Nicht nur reden, sondern auch umsetzen.“ Dazu gehört als Voraussetzung die Standardisierung und Interoperabilität von Systemen, die Sicherstellung der Datenhoheit der Menschen und die nötige technische Infrastruktur. Außerdem sollten Forschungsdaten (z.B. aus klinischen Studien) mit Versorgungsdaten (aus dem Versorgungsalltag) verknüpft werden, sowie die „Verwendung von Patientendaten für die medizinische Forschung nach sorgfältiger Patientenaufklärung und abhängig von der Zustimmung durch die Patient:innen“ möglich gemacht werden.
Klingt irgendwie einfach, ist aber das Gegenteil davon. Denn von den Gesundheitsdaten, die in Deutschland en masse vorhanden sind, ist nur ein kleiner Teil strukturiert; die Schätzungen liegen zwischen fünf und 25 Prozent. Damit sind sie für die Digitalisierung nur bedingt nutzbar, sie müssen aufgearbeitet werden. Doch wer soll das machen? „Wir bräuchten erst einmal die Infrastruktur, der man schnellstens den Auftrag geben müsste, die Daten zu sammeln, aufzuarbeiten und natürlich auch zu schützen“, sagt Wolfgang Branoner. Er denkt an eine Körperschaft des öffentlichen Rechts; in Dänemark oder Österreich gibt es solche Strukturen. Überhaupt sind andere Länder viel weiter. In Großbritannien gelten etwa 85 Prozent der Gesundheitsdaten als strukturiert. Was dort anders ist: Es gibt zentralisierte Strukturen. „In Deutschland gibt es dafür keinen Sponsor“, sagt Branoner. Das aber dürfte heißen: In dieser Legislaturperiode wird sich dahingehend nicht viel ändern. Blöd ist nur: Ohne strukturierte Daten bleibt die Digitalisierung ein Papiertiger.
Sektorengrenzen im Gesundheitswesen aufbrechen
Zumal ein weiterer Dauerbrenner deutscher Reformdiskussionen das Problem verschärft: Die Versorgung der Menschen in den Arztpraxen und den Krankenhäusern dieses Landes findet im Grunde in zwei Welten statt. Dafür stehen Begriffe wie „Silo-Denke“: „An den Schnittstellen von stationärer und ambulanter Versorgung gehen Informationen verloren“, heißt es dazu in dem White Paper. Das aber bedeutet nicht nur, dass kranke Menschen schlechter versorgt werden, als es sein müsste: „Die mangelnde Vernetzung geht mit der Verschwendung von Ressourcen einher“. Sprich: Es wird Geld verbrannt, etwa durch unnötige Doppeluntersuchungen. Diese Brücke zwischen den Sektoren soll unter anderem die elektronische Patientenakte (ePA) schlagen; die steckt allerdings in den Kinderschuhen.
Wenn es einen Überbegriff geben sollte, der das hochkomplexe System des deutschen Gesundheitswesens effizienter machen könnte, dann ist das wohl: Vernetzung. „Es muss sektorübergreifend und von der Geburt bis zum Ableben die Betreuungskette durchdacht werden“, fordert Wolfgang Branoner. „Das ist die Vorsorge, die Behandlung von Krankheiten, das ist die Hochleistungsmedizin, die Nachbetreuung, die Pflege.“ Zumal der medizinische Fortschritt ohne vernetztes Denken auf der Stelle tritt. Ein Beispiel: Eine Krebstherapie „State-of-the-Art“ findet in interdisziplinären Teams statt. Es ist längst bewiesen, dass die Zusammenarbeit vieler Spezialist:innen zu besseren Behandlungserfolgen führt. Moderne Krebstherapie ist Teamwork. Und deshalb nur richtig gut, wenn sie disziplin- und sektorenübergreifend funktioniert. Alles andere ist Krebstherapie von gestern.
Auch hier gilt: Vernetzung setzt digitale Strukturen voraus. Und Personal: Allein schon der Fachkräftemangel dürfte das System mittelfristig zu schlankeren Strukturen zwingen. „Der Mangel an Pflegekräften (einschließlich Intensivmedizin, Altenpflege und Palliativmedizin) hat sich zum kritischen Faktor in der Aufrechterhaltung der Versorgung entwickelt“, heißt es in dem White Paper. „Wir müssen in Ausbildung im umfassenden Sinne denken und die Voraussetzungen schaffen“, so Branoner.
Die Gesundheitswirtschaft als Leitindustrie denken
Überhaupt wundert sich der ehemalige Wirtschaftssenator, dass der gesamtgesellschaftliche Mehrwert von Gesundheit und Gesundheitswirtschaft wenig erkannt wird. Auf Bundesebene ist die Gesundheit vor allem im Gesundheitsministerium aufgehoben. „Es ist aber ein integriertes Politikfeld und sollte auch so behandelt werden.“ In Baden-Württemberg hat man das erkannt: Dort sind beim Thema Gesundheit vier Ministerien involviert: Neben dem Gesundheitsministerium, sind das auch das Wirtschafts-, Wissenschafts- und Innenministerium (verantwortlich für die Digitalisierung). „Das ganze wird aus der Staatskanzlei heraus koordiniert: So stelle ich mir Industriepolitik vor“, so Branoner. Die Gesundheitswirtschaft sieht er als Leitindustrie. Und damit als einen Industriezweig mit einem einzigartigen Innovationspotenzial und strategischer Relevanz. Doch um das zu sehen, muss sich wohl noch ein wenig die Denke ändern: Gesundheitsausgaben müssten als Investitionen in die Zukunft verstanden werden.
Das White Paper mit seinen sieben Punkten sieht außerdem einen verbesserten Zugang der Menschen zu fachärztlicher und spezialisierter Versorgung vor. Betont wird, dass zwischenmenschliches Vertrauen auch nach der digitalen Transformation die notwendige Basis einer guten Versorgung bleibt; dazu gehört die Beteiligung von Patient:innen an der Entscheidungsfindung („shared decision making“), die Stärkung der Gesundheitskompetenz durch patientengerechte Informationen und die angemessene Vergütung für die zeitintensive Beratungstätigkeit („sprechende“ Medizin und Pflege). Auch die Finanzierung sollte umgestaltet werden: hin zu einer qualitätsorientierten Vergütung, wobei das Patient:innenwohl im Mittelpunkt stehen sollte.
Es bleibt nicht viel Zeit. Denn: Wenn es keine wirklichen Strukturreformen gibt, wird das System aller politischen Beteuerungen zum Trotz ohne Leistungskürzungen nicht über die Runden kommen. Schon jetzt wird es mit milliardenschweren Überweisungen über Wasser gehalten. Nur wird das nicht immer so weiter gehen können – zumal nicht nur die Pflege- sondern auch die Rentenversicherung vor ähnlichen Herausforderungen stehen.
Branoner: „Sage mir, wie Du Prävention und Versorgung Deiner Gesellschaft organisierst, dann sage ich Dir, in welchem Zustand sich Dein Gemeinwesen befindet“. Und zitiert Goethe: „Alles schwebt ins Ungewisse“.
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