Das deutsche Gesundheitswesen steht vor großen Herausforderungen. Das System braucht einen Modernisierungsschub. Foto: Prof. Dr. Karl Lauterbach zum Hauptstadtkongress 2022. ©WISO/Schmidt-Dominé
Das deutsche Gesundheitswesen steht vor großen Herausforderungen. Das System braucht einen Modernisierungsschub. Foto: Prof. Dr. Karl Lauterbach zum Hauptstadtkongress 2022. ©WISO/Schmidt-Dominé

Das Gesundheitssystem muss auf den Prüfstand

Zum Auftakt des Hauptstadtkongresses Medizin und Gesundheit (HSK 2022) in Berlin wurde klar: Das deutsche Gesundheitswesen steht vor großen Herausforderungen. Und die sind nicht nur, aber auch finanzieller Art. Strukturreformen müssen her. Das System braucht einen Modernisierungsschub.
Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit 2022 in Berlin. 
Foto: Pharma Fakten
Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit 2022 in Berlin.
Foto: Pharma Fakten

Draußen lockte ein riesiges Plakat mit der Aufschrift: „Die Zukunft des Gesundheitswesens beginnt hier“. Drinnen hatte man den Eindruck: Das ist auch dringend nötig. Auf der Podiumsdiskussion „Die Gesundheitspolitik der neuen Bundesregierung: Der Koalitionsvertrag im Stresstest“ erörterten ein Vertreter der Bundesärztekammer, ein Gesundheitswissenschaftler, ein Mitglied des AOK-Bundesverbandes und ein Gesundheitspolitiker das, was die neue Bundesregierung dringend anpacken muss. Sie waren sich einig: Nun müssen echte Reformen her. Denn dass das deutsche Gesundheitswesen nach vergleichsweise fetten Jahren einer Kur bedarf, ist nicht mehr von der Hand zu weisen. 

In seinem Impuls umriss Prof. Dr. Jürgen Wasem von der Universität Duisburg-Essen die Herausforderungen. Das, was der Wissenschaftler die „primäre Unterdeckung“ der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nennt, ist eine seit ein paar Jahren größer werdende Kluft zwischen den Einnahmen durch die Versicherten-Beiträge und den Ausgaben der GKV. Die liegt in diesem Jahr bei rund 14 Milliarden Euro – andere Stimmen sprechen sogar von rund 25 Milliarden Euro.

Die alte und die neue Bundesregierung hat das Problem per Scheckbuch gelöst: Der Bund sorgt mit milliardenschweren Überweisungen dafür, dass das gesamte System sich finanziell trägt. Prof. Dr. Wasem schätzt, dass diese Finanzspritzen in den kommenden Jahren ständig steigen müssen, wenn nicht gegengesteuert wird. 

GKV-Finanzen: Jährlich steigende Sonderzuschüsse des Bundes

Grund für die steigenden Ausgaben? „Es ist nicht Corona – oder zumindest nur zu einem kleinen Teil. Es ist hauptsächlich die expansive Ausgabenpolitik der letzten Koalition.“ Das sei sicherlich teilweise gut angelegtes Geld, so der Wissenschaftler, schließlich habe man damit zum Beispiel die Pflege besser finanziell ausgestattet. Aber er kritisiert die Praxis eines Bundeszuschusses nach Kassenlage: So sei eine verlässliche Planung nicht möglich. Außerdem weise die seit Jahren stark steigende Unterdeckung darauf hin, dass hier keine Sondereffekte vorliegen, sondern dass das System ein strukturelles Problem hat: Einnahme- und Ausgabenseite sind nicht mehr in Deckung zu bringen.

Experten diskutierten über die Herausforderungen im Gesundheitswesen. Foto: ©WISO/Schmidt-Dominé
Experten diskutierten über die Herausforderungen im Gesundheitswesen. Foto: ©WISO/Schmidt-Dominé

Prof. Dr. Wasem skizzierte verschiedene Szenarien, um dieses Defizit in den Griff zu bekommen: Den Bundeszuschuss weiter erhöhen, die Beitragssätze und die Beitragsbemessungsgrenze der Versicherten anpassen, die Kassenreserven weiter abschmelzen oder die Mehrwertsteuer auf Arzneimittel senken. Auch Leistungserbringer wie Apotheken, Arztpraxen oder die pharmazeutische Industrie könnten „per Rasenmähermethode“ (O-Ton Wasem) zur Kasse gebeten werden. Theoretisch seien auch Leistungskürzungen möglich – sie stehen aber bei der Regierung offenbar nicht auf der Agenda. Zusammengenommen würden die Maßnahmen zwar die Finanzen entlasten. „Aber es löst nicht das strukturelle Problem.“

GKV: Die Liste möglicher Reformansätze ist lang

Die Liste möglicher struktureller Reformen ist lang und überrascht niemanden, der sich mit Gesundheitspolitik beschäftigt: Die deutsche Krankenhauslandschaft muss auf den Prüfstand. Die sektorenübergreifende Ausrichtung den Systems, das immer noch zu sehr in den Silos der verschiedenen Player denkt, steht seit Jahrzehnten auf so ziemlich allen Reformagenden. Die Stärkung der Prävention ist genauso ein gesundheitspolitischer Gassenhauer wie der Plan, Effizienzpotenziale der Digitalisierung zu heben. Das Problem ist allerdings, so Wasem, dass solche Reformen finanziell zunächst nicht entlastend wirken. Im Gegenteil: Es seien teils erhebliche Investitionen nötig, um sie umzusetzen. Sie lösen die Finanzmisere der GKV – wenn überhaupt – erst in ein paar Jahren.

Auch Kai Senf vom AOK-Bundesverband sieht deshalb die Notwendigkeit kurzfristiger Maßnahmen. 11 Milliarden Euro koste die GKV allein die Versicherung der Bezieher:innen des Arbeitslosengeldes II, weil die Beiträge des Bundes nicht reichen, um die Kosten zu decken. Die AOK schlägt außerdem vor, den Mehrwertsteuersatz auf Arzneimittel zu senken – so würde die GKV um rund 5 Milliarden Euro entlastet. „Wenn man das kurzfristig umsetzen würde, wären wir für das Jahr 2023 schon ein Stück auf dem richtigen Weg“, so Senf. Er wäre nicht Manager einer Krankenkasse, wenn er nicht auch „einen Solidarbeitrag“ anderer Leistungserbringer wie der Pharmaindustrie fordern würde. Senf glaubt aber nicht, dass es ohne eine Beitragserhöhung für die Versicherten gehen wird: „Ich glaube, so ehrlich muss man sein.“ Prof. Dr. Wasem ergänzte: „Wir werden maßvolle Beitragserhöhungen verkraften können.“ Dass es zu Beitragserhöhungen kommen wird, ist für den gesundheitspolitischen Sprecher der CDU/-CSU-Fraktion Tino Sorge „so sicher wie das Amen in der Kirche.“

Digitalisierung: „Wir müssen in die Puschen kommen.“

Für Dr. Günther Matheis von der Bundesärztekammer steht die Reform der Krankenhauslandschaft ganz oben auf seiner Liste. „Wir werden nicht jedes Krankenhaus halten können – das ist so. Wir haben gar nicht mehr das Personal und die Fachkräfte, um diese Strukturen zu bedienen.“ CDU-Mann Sorge beklagte, dass man nun seit Monaten darauf warte, dass die Bundesregierung ein GKV-Stabilisierungsgesetz vorlegt. „Es geht hier ja um Summen, die mit ein bisschen Gesichtskosmetik nicht zu beheben sind.“ Er plädierte dafür, nicht über Leistungskürzungen, sondern über Leistungsoptimierung zu diskutieren. Bei der Digitalisierung müsse man deshalb nun endlich „in die Puschen kommen.“ 

Auf dem HSK 2022. Foto: ©WISO/Schmidt-Dominé
Auf dem HSK 2022. Foto: ©WISO/Schmidt-Dominé

Auch hier Einigkeit auf dem Podium: Dr. Matheis forderte von der Regierung dringend ein Gesundheitsdatennutzungsgesetz vorzulegen. Die Pandemie habe gezeigt, dass man auf Daten aus dem Ausland zurückgreifen muss, um wichtige Erkenntnisse zum Krankheitsgeschehen zu erhalten. „Wir brauchen Datensolidarität. Das bedeutet, dass der Einzelne nicht nur Rechte genießt, sondern im Sinne der Allgemeinheit auch eine Verpflichtung hat, Daten zu teilen. Das brauchen wir, damit wir die Versorgungslandschaft steuern können. Wenn wir so weiter machen wie bisher, werden wir in 10 Jahren feststellen, dass der Datenschutz die häufigste Todesursache in Deutschland ist“, so der Mediziner.

Die Diskussion zeigt: Die goldenen Jahre mit sprudelnden Einnahmen sind vorbei. Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach hat eine arbeitsreiche Legislaturperiode vor sich.

Weitere Infos zum Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit: https://www.hauptstadtkongress.de/

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