Sie fordern seit Jahren, Daten aus den Disease-Management-Programmen zusammenzuführen und auszuwerten. Um welche Daten handelt es sich dabei?
Dr. Matthias Kaltheuner: Seit dem Jahr 2003 gibt es für Menschen mit Diabetes so genannte Disease-Management-Programme, kurz DMP. Das sind strukturierte Behandlungsprogramme, die auf dem aktuellen medizinischen Forschungsstand basieren. Ziel ist es, den Diabetes gut zu behandeln und Folgeerkrankungen zu verhindern. Bei diesen DMPs werden sehr viele Daten erhoben. Denn die Patienten werden regelmäßig untersucht und dabei werden Werte wie Blutzucker, Blutdruck, Nierenfunktion erfasst – diese Daten könnten bundesweit zusammengeführt und dazu genutzt werden, die Behandlung zu verbessern und die Forschung voranzutreiben.
Weshalb passiert das nicht?
Kaltheuner: Seit nunmehr fast 20 Jahren werden in allen 17 KVen der Länder, also in den kassenärztlichen Vereinigungen, die Daten zwar einheitlich erhoben, aber nicht wirklich bundesweit ausgewertet, da es keine nationale Diabetes-Datenbank gibt. Es gibt die gesetzliche Vorgabe der bundesweiten Auswertung durch die Krankenkassen. Diese genügt aber den Ansprüchen der Versorgungsforschung nicht. Das Erheben von Daten allein nützt ja noch gar nichts. Sondern es ginge eigentlich darum, herauszufinden, ob man die Behandlungsziele erreicht hat oder nicht. Und: In welcher Quote hat man sie erreicht, in welcher Verteilung und vieles mehr? Bislang werden die DMP-Daten nur in zwei KV-Bereichen ausführlich analysiert.
In welchen?
Kaltheuner: In Westfalen-Lippe und in Nordrhein, wo ich tätig bin. Die Praxen bekommen Feedback-Berichte zu ihren Patienten, die Ergebnisse werden in Qualitätszirkeln besprochen und es wird ein ausführlicher jährlicher Gesamtbericht erstellt. Unsere Auswertungen in Nordrhein haben klar ergeben, dass Diabetes-Patienten, die im Rahmen der DMP behandelt werden, einen besseren Verlauf haben, insbesondere, was schwere Langzeitfolgen betrifft – also weniger Erblindung, weniger Dialyse, weniger Amputationen.
Aber warum kann nicht bundesweit gemacht werden, was in Nordrhein gut funktioniert?
Kaltheuner: Das frage ich mich auch. Was die Sache völlig unverständlich macht: Die Daten liegen überall im selben Format vor, es ist sehr einfach, sie zusammenzuführen und sinnvoll auszuwerten.
Von wie vielen Daten sprechen wir hier eigentlich?
Kaltheuner: In beiden DMP-Programmen zusammen kamen wir im Jahr 2021 auf fast 5 Millionen Patienten – exakt waren das 4.721.111 Menschen im Disease Management Programm zu Typ 2 Diabetes und 267.094 Menschen im DMP zu Typ 1 Diabetes. Das sind also riesige Datenmengen, die sich auch noch so exportieren ließen, dass die Jahre davor mit enthalten wären und man die Entwicklung sehen könnte. Eine solche nationale Diabetes-Datenbank für ganz Deutschland ließe sich innerhalb von 3 Monaten einrichten.
Wer könnte diese Aufgabe übernehmen?
Kaltheuner: Das Büro für Evaluation und Qualitätssicherung in Köln. Diese Institution gehört zum Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland und den KVen. Das würde noch nicht einmal Geld kosten, da die Mitarbeiter bezahlt werden, die sowieso schon da sind. Hier könnten die Daten aus den 17 KVen zusammengeführt und so aufbereitet werden, dass man insbesondere zu Erkenntnissen über die Wirksamkeit der Programme kommen kann. Man könnte bundesweit herausfinden: Welche Untergruppen brauchen mehr Aufmerksamkeit und Therapie und welche brauchen vielleicht etwas weniger. Es geht nicht darum, immer mehr Maßnahmen zu ergreifen, sondern darum, dass die Behandlung so zielgenau wie möglich erfolgen kann.
Was müsste geschehen, um den Datenschatz aus den DMPs doch noch zu heben?
Kaltheuner: Die gesetzlichen Grundlagen sind eigentlich vorhanden. Nach Paragraph 137f, Absatz 4, Sozialgesetzbuch V müssten die Krankenkassen eine externe Evaluation veranlassen. Die erfolgt auch tatsächlich, aber auf eine Art und Weise, die wir bei der Deutschen Diabetes Gesellschaft für völlig unbefriedigend halten. Denn diese gebündelten Daten stehen den Krankenkassen zur Verfügung, aber nicht der Ärzteschaft und keinen öffentlichen Forschungsinstituten. Das muss sich ändern und dazu brauchen wir eine Ergänzung dieses Paragraphen 137f. Er müsste einen Passus enthalten, wonach die Daten pseudonymisiert bzw. anonymisiert auch medizinischen Fachgesellschaften und öffentlichen Forschungsinstituten zur Verfügung gestellt werden. Wir haben keine Hoffnung mehr, dass das auf Freiwilligkeit beruhend funktionieren wird. Der Gesetzgeber muss es vorschreiben. Wir brauchen eine nationale Datenbank, die wie geschildert nutzbar ist. Solche Datenbanken könnte man auch für andere chronische Erkrankungen aufbauen, für die es Disease Management Programme gibt, etwa Asthma, Depressionen oder Koronare Herzkrankheiten.
Aber ist eine solche Datenbank gerade bei Diabetes Typ 2 wirklich notwendig? Würde es nicht reichen, wenn Diabetes-Patient:innen weniger essen und sich mehr bewegen?
Kaltheuner: Fakt ist: Die Zahl der Diabetes-Patienten steigt weltweit. Natürlich gibt es bei Diabetes sehr oft einen eigenen Anteil an der Entwicklung der Krankheit. Aber ich bin, wie viele Kollegen, immer mehr davon überzeugt, dass genetische Hintergründe eine sehr große Rolle spielen. Es gibt ja Menschen, die bewegen sich zu wenig und ernähren sich ungesund – und bekommen trotzdem keinen Diabetes. Übergewicht hat eben auch genetische Ursachen. Das sollten wir verstehen und nicht einfach nur behaupten, die Leute seien selbst schuld an ihrer Situation. So einfach ist es nicht. Sie sind nicht nur Opfer ihrer Ernährungsgewohnheiten, sondern auch Opfer ihres genetischen Hintergrundes und der Umstände, wie sie nun einmal sind. Es geht nicht darum, die Schuld bei den Patienten zu suchen, sondern darum, gesundheitliche Probleme zusammen mit den Patienten zu lösen. Eine bundesweite Diabetes-Datenbank könnte dabei unschätzbare Dienste leisten.
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