Herr Dr. Ohde, rund acht Millionen Menschen leiden in Deutschland unter Diabetes – in 20 Jahren könnten es nach aktuellen Schätzungen bereits zwölf Millionen Menschen sein. Was lässt sich dagegen unternehmen?
Dr. Tobias Ohde: Ich erkläre meinen Patient:innen immer, sie sollen mal auf die Inhaltsstoffe der Lebensmittel achten, die sie konsumieren. Zwei Wochen später kommen sie wieder und sagen: „Ich darf überhaupt nichts mehr essen.“ Fakt ist: In den meisten Lebensmitteln ist viel zu viel Zucker drin. Deshalb wäre es dringend nötig, eine Zuckersteuer einzuführen. Nur so besteht eine Chance, den Zuckergehalt in unserer Nahrung zu reduzieren. Die Lebensmittelhersteller tun das nicht freiwillig, wie man an der Ernährungsampel sieht – dort lassen sie sich alles Mögliche einfallen, um die Etiketten so zu gestalten, dass der tatsächliche Zuckergehalt nicht klar erkennbar ist. Hier hilft nur eine Zuckersteuer, gerade für Lebensmittel, die Kinder besonders mögen. So könnten wir frühzeitig mit der Prävention anfangen.
Der Kampf gegen Diabetes ist also nicht nur eine medizinische, sondern auch eine politische Angelegenheit?
Ohde: Absolut. Denn Prävention ist extrem wichtig – und sie fängt bei politischen Entscheidungen an. Das betrifft neben der Ernährung auch die Bewegung. Die meisten Schüler:innen bewegen sich viel zu wenig, vor allem deshalb, weil an den Schulen viel zu wenig Zeit und Geld für Bewegung und Sport aufgebracht wird. Man müsste mehr Sportstunden anbieten und Sportfeste so ausrichten, dass Kinder etwas davon haben. Früher waren sie stolz auf die Pokale, die sie gewinnen konnten, heute sind sie stolz, wenn sie ein Sternchen in einem Digitalspiel bekommen. Aber Kinder müssen sich bewegen, sie brauchen ein vernünftiges Schulessen und auch gute Luft in den Räumen – gerade in Corona-Zeiten. In den Vorstandsetagen gibt es gute Lüftungssysteme, jedes größere Unternehmen bietet Betriebssport an – nur bei Kindern wird das vernachlässigt. Aber man muss mit Prävention bei Kindern und Jugendlichen anfangen, nicht erst bei Erwachsenen. Übrigens ist auch die Wertschätzung für eine Tafel Schokolade vielleicht höher, wenn sie 12 Euro kostet und nicht bloß 60 Cent. Aber das geht nur über eine Zuckersteuer.
Steuererhöhungen oder neue Steuern sind aber nicht sonderlich beliebt.
Ohde: Das stimmt, aber man könnte das eingenommene Geld ja verwenden, um gesunde Lebensmittel günstiger zu machen. Etwa, indem man die Bauern unterstützt, die biologisch wirtschaften. Ein verändertes Ernährungsverhalten können wir in Deutschland nur übers Geld erreichen – nicht über Vernunft.
Welchen Nutzen bieten digitale Anwendungen für die Prävention von Diabetes?
Ohde: Für die Prävention sind Bewegungsapps und Fitnesstracker durchaus hilfreich. Ebenso Ernährungsapps, die dabei helfen, Gewicht zu verlieren. Und dann gibt es auch spezielle Diabetes-Apps, von denen viele ebenfalls sehr gut funktionieren. Und auch Pokémon gehört zu den diabetikerfreundlichen Anwendungen.
Pokémon ist ein Rollenspiel, bei dem die Teilnehmenden auch draußen unterwegs sind, um „wilde Pokémons“ zu fangen. Und das hilft Diabetiker:innen?
Ohde: Es gab Leute, die damit tatsächlich acht oder zehn Kilo abgenommen haben. Und viele, die sonst den ganzen Tag vor dem Computer hängen, konnten ihre Blutzuckerwerte deutlich verbessern. Leider war die Pokémon-Suche im Freien nur eine Welle und nicht verpflichtend für alle Diabetiker:innen.
Wie nützlich ist die Digitalisierung bei der Diabetes-Behandlung?
Ohde: Man kann damit die Therapie wunderbar begleiten und beobachten. Viele Menschen vergessen zum Beispiel, ihre Medikamente pünktlich und regelmäßig einzunehmen. Da gibt es mittlerweile verschiedene Apps, die an die Einnahme der Medikamente erinnern – auch solche, die zum Beispiel die Angehörigen informieren, wenn Patient:innen ihre Tabletten nicht genommen haben. Eine digitale Anwendung, die in diesem Zusammenhang noch nicht umgesetzt wird, wäre ein bundeseinheitlicher Medikamentenplan. Viele Menschen haben keinen vernünftigen Medikamentenplan, nicht mal in Papierform – sie wissen also nicht, welche Medikamente sie wann, wie und warum einnehmen sollten. Hier könnte die Digitalisierung sehr hilfreich sein, nicht nur bei Diabetes.
In der Diabetes-Therapie gibt es heute digitale Möglichkeiten, die vor einigen Jahren noch wie Science Fiction klangen.
Ohde: Ja, ich denke da zum Beispiel an die Blutzuckermessungen. Zusätzlich zur klassischen Messung mit Blutstropfen gibt es heute Sensoren, die regelmäßig den Zuckerwert im Unterhautfettgewebe messen und so dazu beitragen können, die Insulintherapie zu steuern. Es gibt für Typ1-Diabetiker:innen Pumpensysteme für die Insulindosierung – sie erhöhen oder verringern automatisch die Insulinzufuhr, wenn der Zucker rauf- oder runtergeht. Wenn die Patient:innen nicht gerade Bedienungsfehler machen, können sie dadurch kaum noch unterzuckern. Bei uns in der Praxis begleiten wir die Patient:innen zudem über Videosprechstunden. Sie können also in Honolulu am Strand sitzen und trotzdem mit uns über ihre Zuckerwerte sprechen – vorausgesetzt sie haben die Ergebnisse der kontinuierlichen Glukosemessung in einer Cloud gespeichert und uns freigeschaltet.
Sie haben kürzlich auf dem „Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit“ einen Vortrag zum Thema „Smarte Praxis Diabetologie“ gehalten. Was verstehen Sie darunter?
Ohde: In der smarten Praxis Diabetologie geht es darum, die Therapie ins Wohnzimmer der Patient:innen zu bringen – per Videosprechstunde und über cloudbasierte Kontrollmechanismen und Sensorlösungen. Es gibt Menschen, die wir engmaschiger betreuen – bei ihnen schauen wir einfach in die Cloud, sehen uns die Tageswerte an und rufen sie dann im Zweifelsfalle an. Es gibt ja zum Beispiel Menschen mit psychischen Problemen, die sich nicht selbst um ihre Zuckerwerte kümmern können. Sie mussten früher täglich zu uns kommen – heute rufen wir sie an, wenn der Zucker entgleist. Aber auch mit den Patient:innen bei uns in der Praxis arbeiten wir „smart“: Wir schauen uns zum Beispiel gemeinsam die Blutzuckerwerte auf einem Bildschirm an – das allein hat schon einen psychologischen Effekt. Nicht der Arzt schaut auf die Werte und sagt „böse, böse“, sondern man sieht es gemeinsam und versucht anhand der Bilder herauszufinden, warum der Blutzucker sich so verhalten hat. Digitale Prozesse helfen dabei, eine gemeinsame Lösung zu finden – die Patient:innen mögen das und fordern es auch ein.
Alle Patient:innen? Oder nur die Jüngeren?
Ohde: Alle. Es stimmt einfach nicht, dass ältere Patient:innen sich gegen Digitalisierung wehren. Die letzte Patientin, die mich wirklich in Erstaunen versetzt hat, war eine 86-jährige Typ-2-Diabetikerin: Sie hat ihr iPad herausgezogen und mir erklärt, wie ich damit die Fotos von ihrem diabetischen Fuß an ihren Sohn schicken kann.
Welche digitale Anwendung ist für Sie die wichtigste?
Ohde: Nun ja, ich wünsche mir sehr eine cloudbasierte elektronische Patientenakte, die den Menschen die Möglichkeit gibt, frei zu entscheiden, wer darauf zugreifen kann.
Aber die ePA, so die Abkürzung, gibt es doch schon – und seit 1. Juli müssen alle Ärzt:innen sie auch lesen und befüllen können.
Ohde: Also, ich hab` schon einen Button auf meinem Rechner. Demnächst kann ich auch mal in die ePA reinschauen. Und was sehe ich dort? Ein Impffeld, einen Medikamentenplan, immerhin, und ein Notfalldatensatzblatt. Man kann auch Allergien eingeben, aber viel mehr ist noch nicht möglich. Zudem läuft sie über die Krankenkassen-Karte, was bedeutet, dass Apotheker:innen und Ärzt:innen die ePA lesen können, aber nicht die Patient:innen selbst. Bei einer cloudbasierten ePA wäre das anders.
Das klingt, als wären Sie nicht wirklich zufrieden mit den Fortschritten der Digitalisierung im deutschen Gesundheitssystem?
Ohde: Wir hinken mit der Digitalisierung in den Schulen hinterher und auch im Gesundheitssystem. Es gibt Möglichkeiten, aber es wird nichts daraus gemacht. Da sitzen Leute in irgendwelchen Gremien, die selbst kein Smartphone bedienen können. Die wehren sich natürlich gegen alles, was neu ist – und dafür eignet sich kaum etwas besser als der Verweis auf den Datenschutz.