Das Thema Sicherheit wird in Deutschland sehr großgeschrieben. Meint man. Ein Auto, bei dem die Bremsen defekt sind, kann jederzeit zurückgerufen werden. Bei Medikamenten ist das schwieriger, sagte Professor Ferdinand Gerlach, ehemaliger Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen auf der von der Ärzte Zeitung durchgeführten Veranstaltung „#Onkodigital: Gesundheitsdaten besser nutzen – wie schafft Deutschland den Anschluss?“. Sie wurde von den forschenden Unternehmen Pfizer und Roche unterstützt.
Immer wieder kann es vorkommen, dass Arzneimittel zurückgerufen werden müssen; etwa wegen einer Verunreinigung einer Produktionscharge oder einer plötzlich auftretenden Nebenwirkung, die bisher nicht bekannt war. Doch haben die Patient:innen ihr Medikament erstmal in der Hand, erreicht sie diese Information in der Regel nicht. Die Kommunikation solcher Ereignisse geht an die Apotheken und Arztpraxen. Das ist auch eine Frage des Datenschutzes: Patient:innen hätten vorher schriftlich zustimmen müssen, dass sie informiert werden dürfen.
ePA: Deutschland hat 15 Jahre Rückstand
Die Chancen, die er in der Nutzung einer datenunterstützten Medizin sieht, fasst Professor Gerlach deshalb so zusammen: „Daten teilen heißt besser heilen.“ Deshalb brauche Deutschland die elektronische Patientenakte (ePA) mit Opt-Out: „Da haben wir gegenüber anderen europäischen Ländern einen Rückstand von ca. 15 Jahren.“ Opt-Out bedeutet, dass Versicherte eine ePA eingerichtet bekommen, ihr aber widersprechen können. Bisher ist es umgekehrt: Die ePA wird erst eingerichtet, wenn sie zustimmen. Das ist im Digitalgesetz der Bundesregierung vorgesehen.
„Und wir brauchen ein Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG), damit diese Daten sinnvoll und legal genutzt werden können“, sagt Gerlach. Das GDNG soll die Leitplanken festlegen, wie Daten gesammelt und ausgewertet werden und wer sie nutzen darf – das ist in der Digitalisierungsstrategie der Berliner Ampel geplant.
Pro B-Studie: Was die Digitalisierung in der Medizin alles kann
Was die Digitalisierung alles kann, zeigt beispielhaft die Pro B-Studie, die die Klinik für Gynäkologie an der Charité für Frauen mit metastasiertem Brustkrebs aufgesetzt hat. Dr. Maria Margarete Karsten schildert die Situation: „Wir haben immer intensivere und längere Therapien, wir haben viel mehr Informationen und einen größeren Bedarf, diese Patientinnen zu überwachen. Gleichzeitig haben wir immer weniger Personal und Ressourcen – all das muss unter einen Hut. Dafür braucht es Systeme, auch um sicherzustellen, dass die Menschen überall in Deutschland gleich gut versorgt werden können.“
Pro B überwacht die Patientinnen während der Chemotherapie – und das an fast 70 Zentren im ganzen Land. Dazu werden sie regelmäßig über ihr Smartphone zu ihrem Befinden und ihrer Lebensqualität befragt. Zeigen sich Veränderungen, wird das Ärzt:innen-Team sofort alarmiert und kann geeignete Maßnahmen ergreifen. „Wir wissen, dass das dazu führen kann, dass das Überleben verlängert wird.“ Pro B macht Medizin in Echtzeit möglich – und damit eine ständige Therapieoptimierung. Oder anders: Ein solcher Qualitätssprung in der Versorgung ist ohne digitale Unterstützung gar nicht möglich. Hinzu kommt: Die Daten, die in dem Projekt entstehen, können wichtige Impulse für die Forschung liefern – von Pro B profitieren die Frauen, die jetzt in Behandlung sind, weil sie engmaschiger versorgt werden. Ihre Datenspende für die Forschung kann den Frauen helfen, die später mit einer Brustkrebsdiagnose konfrontiert sind. Oder ihnen selbst, wenn der Krebs zurückkommt – und die Medizin unter anderem durch ihre Datenspende wieder ein Stück besser geworden ist.
Unter den Teilnehmerinnen von Pro B ist auch eine über 80-jährige Frau. Sie beschreibt das Projekt als einen „kleinen Engel, der immer auf mich aufpasst“, wenn sie ihr Smartphone herauskramt, um die Fragen zu beantworten. Eine digitale Anwendung als Engel? „Sie funktioniert nur mit den Menschen dahinter“, sagt Dr. Karsten.
Datengetriebene Medizin macht bessere Medizin möglich
Maro Bader arbeitet bei Roche, die digitale Transformation ist sein Thema. Er vergleicht Gesundheitsdaten mit erneuerbaren Energien: „Sie sind fast unlimitiert verfügbar, sie können vernetzt werden – der Wert entsteht erst, wenn ich sie zusammenführe.“ Bader sagt voraus, dass „wir eines Tages sehen werden, dass datengetriebene, mit Künstlicher Intelligenz (KI) gestützte Systeme Menschen mit Erkrankungen besser versorgen. Wir werden den Luxus gar nicht mehr haben, darauf verzichten zu können.“
Dr. Hagen Krüger von Pfizer mahnte auf der Veranstaltung, jetzt die Weichen zu stellen: „Die Künstliche Intelligenz kommt auch ohne uns.“ Er sieht die akute Gefahr, dass Deutschland den Anschluss verliert und hofft, dass mit dem GDNG der Weg für eine Medizin frei wird, die durch qualitätsgesicherte und sichere Datennutzung besser wird. Handlungsbedarf sieht der Mediziner jetzt schon: „Aktuelle Daten zeigen: Bei Männern liegen wir bei der Lebenserwartung in Europa auf dem vorletzten und bei Frauen auf dem vorvorletzten Platz. In anderen Ländern in Westeuropa lebt man 3 Jahre länger.“ Er sieht in der Debatte über den Datenschutz in Deutschland eine Überbetonung der möglichen Risiken. „Durch das Nichtnutzen von Daten erleben Patienten täglich Schäden: Leitliniengerechte Therapie in der Onkologie verlängert Leben.“ Doch viele der betroffenen Menschen bekommen eine solche Therapie nicht. „Dass ein Patient durch ein Datenleck einen körperlichen Schaden erleidet, ist sehr unwahrscheinlich.“
Natürlich müssen die Sorgen der Menschen ernstgenommen werden – da war sich das gesamte Podium der Veranstaltung einig. Maro Bader plädierte deshalb für eine ehrliche Debatte, die gar nicht erst suggeriert, dass es nicht zu Datenlecks kommen kann. „Was wir den Menschen zeigen müssen, ist, dass die Maßnahmen, Gesetze, Sanktionen ausreichen, um den besonderen Schutz dieser Daten sicherzustellen.“ Niemand käme auf die Idee, nicht mehr mit Kreditkarte zu zahlen, weil es theoretisch möglich ist, dass die Daten gehackt werden. Datenschützer Professor Alexander Rossnagel betont: „Für Gesundheitsdaten brauchen wir das höchstmögliche Maß an technischer Sicherung.“ Entsprechend müssten dafür die finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt werden.
Versorgungs- und Studiendaten miteinander verknüpfen
Für die forschende Pharmaindustrie ist eines wichtig: Sie fordert im Datennutzungsgesetz das Antragsrecht, auf Gesundheitsdaten für Forschungszwecke zurückgreifen zu können. Denn jeder einzelne Datensatz von Menschen mit und ohne Erkrankungen kann wichtige Hinweise dafür liefern, wie sie besser vor Krankheiten geschützt oder besser behandelt werden können. „Für ein forschendes Unternehmen wie uns ist es wichtig, dass das Antragsrecht auf die wissenschaftliche Nutzung von Gesundheitsdaten aus der Versorgung jetzt gesetzlich verankert wird“, sagt Hagen Krüger von Pfizer. Denn in der Verknüpfung von Daten aus klinischen Studien mit denen aus der Versorgung im medizinischen Alltag schlummern erhebliche Schätze für eine bessere Medizin. Die Industrie sei ebenfalls bereits, die in den klinischen Studien erhobenen Daten zu teilen: „Das findet schon heute ständig statt.“
Den Luxus einer Digitalisierung, die keine ist, kann sich Deutschland gar nicht leisten. Professor Gerlach findet: „Wir führen hier eine typisch deutsche Debatte. In einem Land wie Dänemark würde sie so gar nicht stattfinden, das haben die schon vor vielen Jahren gemacht.“ Denn die Chancen, die sich aus einer datengetriebenen Medizin ergeben, sind riesig: „Künstliche Intelligenz kann Röntgenbilder analysieren, kann Differentialdiagnosen und Anamnesen erheben, wird bald, während wir mit den Patienten sprechen, eine Dokumentation erstellen, wird Arztbriefe und Abrechnungen schreiben. Und das ist erst der Anfang.“ Das zeigt: Eine wirklich personalisierte Medizin ist ohne Datennutzung nicht möglich. Deutschland muss Gas geben.
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