Skepsis im Umgang mit den eigenen Gesundheitsdaten? Folgt man dem Selftracking-Report 2022, ist von Datenmuffelei in Deutschland wenig zu sehen. Gefragt wurden 5.000 Bürger:innen, ob und wie sie ihre Daten messen und wie Forschung und Medizin mit ihren Daten umgehen sollten. Die Ergebnisse? Zumindest überraschend:
- Das Smartphone ist das neue Messinstrument Nummer 1 für Gesundheitsdaten und Symptome. „4 von 5 Bürger:innen sind Gesundheits-Tracker“, so Mitautor Dr. Alexander Schachinger von Epatient Analytics. Die Pandemie hat offenbar für einen deutlichen Schub gesorgt, auch bei den Älteren.
- 4 von 5 sind laut Umfrage für eine nationale Forschungsdatenbank, gefüllt mit ihren Daten.
- 70 Prozent sagen Ja zu einer sinnvollen Anwendung ihrer Daten, z. B. für das Einfließen in ihre Patient:innen-Akte. Ebenfalls 70 Prozent wünschen sich bei Verschlechterung ihrer Vitaldaten eine entsprechende Meldung auf dem Handy zu erhalten.
„Fazit: Die Bürger mit ihrer digitalen Lebenswelt sind deutlich weiter als die Politik“, erklärt Dr. Schachinger. „Es ist schon ein kleiner Skandal. Die meisten Vitaldaten der Deutschen landen in Südkorea bei Samsung oder in Kalifornien bei Apple und Google.“
Digitale Medizin: Lebensretter Datenspende
Deutschland tut sich schwer im Spannungsfeld zwischen Datenschutz und dem sinnvollen Umgang mit Gesundheitsdaten. Doch die Umfrage zeigt, dass die Bürger:innen offenbar ein ganz gutes Gefühl dafür haben, welchen Nutzen das Teilen ihrer Gesundheitsinformationen haben kann. „Gesundheitsdaten bringen die Forschung nach vorne“, sagt Friedrich-Wilhelm Leverkus, der bei Pfizer unter anderem für die Planung, Durchführung und Auswertung von klinischen Studien verantwortlich ist. Von der Prävention über diagnostische Screenings, bei denen Risikofaktoren für das mögliche Auftreten von Gesundheitsereignissen untersucht werden können, bis zur Therapie und Nachsorge – überall können Daten dafür sorgen, dass bessere, weil evidenzbasierte Entscheidungen getroffen werden. Leverkus sagt: „Daten teilen kann Leben retten und so Gesundheit verbessern.“ Das gilt nicht nur für kranke Menschen. Aus Risikofaktoren lassen sich vor Auftreten einer Erkrankung bereits Schlüsse ziehen, wenn auf entsprechende Daten zurückgegriffen werden kann. Einen Schlaganfall, einen Herzinfarkt verhindern? Eine datengetriebene Medizin kann das deutlich erleichtern.
Die Bürger:innen sind für die Nutzung ihrer Daten durch Dritte aufgeschlossen – wenn sie verstehen, worum es geht, und wenn sie wissen, wer sie nutzen will. Der Mathematiker Prof. Michael Krawczak von der Uni Kiel zitierte aus einer Forsa-Umfrage. Sie zeigt eine „massive Unterstützung der Allgemeinbevölkerung zu einer einwilligungsfreien Nutzung von verschlüsselten Patientendaten – über 80 Prozent für die öffentliche Forschung und etwa 60 Prozent für die Privatwirtschaft.“ Sorgen äußerten die Befragten darüber, dass Daten an Dritte weiterverkauft werden könnten und dass der Schutz der Daten nicht ausreichend kontrolliert werde. „Hier braucht es Überzeugungsarbeit, um zu zeigen, dass diese Daten auch bei privatwirtschaftlichen Nutzern genauso gut geschützt sind“, so Professor Krawczak. Das Verständnis der Menschen für den Nutzen von Datenspenden ist durch den „Drive der Pandemie“ deutlich gestiegen. Deutschland hat Lust auf digitale Medizin.
Datenspenden: „Wir müssen Vertrauen schaffen“
„Es ist OK, dass Menschen skeptisch sind“, findet Paul Burggraf, dessen Start-up Thryve die Datenspende-App für das Robert Koch-Institut in der Pandemie entwickelt hat. Er will mögliche Datenrisiken auch gar nicht kleinreden, setzt auf Überzeugungsarbeit und Vertrauen. „Die Bereitschaft der Menschen zum Datenteilen ist da, es fehlt nur an den entsprechenden Systemen, die benutzbar sind.“ Er glaubt auch nicht, dass der Datenschutz hierzulande zu streng ist. Er vermisst einen Akteur, der die Daten zentral verwaltet. „Die elektronische Patient:innen-Akte hat das Potenzial, aber es wird sicher noch 10 Jahre dauern, bis Patienten ihre Daten auch in der ePA finden können.“ Auch Burggraf setzt auf Überzeugungsarbeit: „Wir müssen zeigen, dass es funktioniert. Wir müssen auf Datensicherheit achtgeben. Und Vertrauen schaffen.“ Sein Unternehmen bezahlt Hacker, „die versuchen, bei uns einzubrechen, damit wir sehen können, wo man einbrechen kann.“
Webbasierte Gesundheitsakte: Digitalisierung selbstgemacht
Simone Pareigis steht stellvertretend für die Menschen, die nicht darauf warten können, bis sich die deutsche Datenbehäbigkeit in Luft auflöst – und zwar aus ganz pragmatischen Gründen. Selbst Krebspatientin, bringt es ihre Gesundheitsakte mittlerweile auf ein Gewicht von 20 Kilo. Weil sie nur 3 bis 4 Kilo tragen darf, kam ihr die Idee, ihre Daten zu digitalisieren. Herausgekommen ist meine.WEGA. WEGA steht für „webbasierte Gesundheitsakte“. Damit können Befundberichte, Anamnese, Entlassungsberichte, Impfungen, Therapien oder Bilder zentral verwaltet werden. Sie weiß aus ihrer Arbeit, dass die Skepsis der Menschen vor der Digitalisierung vorhanden ist. „Aber wenn ich weiß, dass wir aus den Daten von 3 oder 4 Patienten vielleicht einen retten können, dann ist das doch wunderbar.“ In der Praxis funktioniert das so: Ärzt:innen können sich bei der IT-Firma, die meine.WEGA betreut, melden und bekommen zeitlich begrenzt Zugang zur Patient:innen-Akte. Es ist eine einfache Lösung mit großem Effekt: Es ermöglicht den Mediziner:innen einen umfassenden Blick über den gesamten Krankenverlauf. Interesse von Seiten der Krankenkassen an ihrer Lösung gab es wohl. „Aber die hatten nur Fragen, Fragen, Fragen. Ein Interesse an einer Zusammenarbeit gab es nicht“, so Simone Pareigis.
Das ist das Problem: Die Bereitschaft zum Datenteilen ist da. Nur wohin mit den gesammelten Daten? Eine Anlaufstelle gibt es nicht. Moderatorin Sybille Seitz fasste die Situation in Deutschland so zusammen: „Ich würde ja gerne, aber ich nicht weiß nicht wie.“ Nun muss es wohl heißen: Politik, bitte übernehmen Sie.
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