Das Institut für Digitale Allgemeinmedizin in Aachen entwickelt neue Diagnose- und Behandlungswege, insbesondere für Seltene Erkrankungen – Institutsleiter Prof. Martin Mücke erklärt im Interview die Hintergründe. Foto: ©iStock.comipopba
Das Institut für Digitale Allgemeinmedizin in Aachen entwickelt neue Diagnose- und Behandlungswege, insbesondere für Seltene Erkrankungen – Institutsleiter Prof. Martin Mücke erklärt im Interview die Hintergründe. Foto: ©iStock.comipopba

Digitale Medizin – wo Aachen ganz vorne liegt

Seit rund einem Jahr gibt es an der Uniklinik in Aachen das deutschlandweit erste Institut für Digitale Allgemeinmedizin. Wir haben mit dem Leiter des Instituts, Prof. Martin Mücke, über Schwerpunkte und Besonderheiten dieser Einrichtung gesprochen – und darüber, weshalb wir in der Medizin einen digitalen Strukturwandel brauchen und wie dieser aussehen könnte.

Sie leiten an der Uniklinik RWTH Aachen das Institut für Digitale Allgemeinmedizin. Was machen Sie dort?

Prof. Martin Mücke, Leiter des Instituts für Digitale Allgemeinmedizin.
Prof. Martin Mücke, Leiter des Instituts für Digitale Allgemeinmedizin. Foto: Atelier Ralf Bauer, Köln

Prof. Martin Mücke: Ich habe dort seit Oktober 2021 einen vollwertigen Lehrstuhl für Allgemeinmedizin inne, wie es ihn auch an anderen Standorten gibt. Allerdings haben die Aachener bei dieser Neugründung technische Schwerpunkte gesetzt, die ein bisschen anders und innovativer als gewohnt sind. Wir setzen zum Beispiel neue digitale Systeme im ambulanten Bereich ein und beforschen sie auch – dabei geht es unter anderem darum, den Weg zur Diagnose zu verkürzen. Dazu setzen wir auch Systeme ein, die auf KI basieren, also auf Künstlicher Intelligenz. Aktuell arbeiten wir daran, eine voll digitalisierte Praxis aufzubauen und wir versuchen darüber hinaus, eine ganze Region zu digitalisieren. Etwa durch den Aufbau von so genannten Gesundheitskiosken, wie sie im Koalitionsvertrag vorgesehen sind – hier entwickeln wir Konzepte, wie man das strukturiert und flächendeckend einführen kann. 

Wie müssen wir uns das vorstellen?

Mücke: Nun, wir bauen ein komplettes System auf. In Planung ist eine so genannte Campus-Ambulanz, die im Hintergrund als Konsilgeber für diese Gesundheitskioske fungiert – die Gesundheitskioske erhalten also digitale Unterstützung durch unterschiedliche Experten. 

Auf Ihrer Homepage heisst es: „Wir erforschen und entwickeln digitale medizinische Anwendungen, neue Versorgungsformen und künstliche Intelligenz (KI)-basierte Diagnosehelfer“. Können Sie dafür Beispiele nennen?

Mücke: Diagnosehelfer können zum Beispiel digitale Fragebögen sein, die wir gerade mitentwickeln. Dabei geht es insbesondere darum, seltene Erkrankungen frühzeitig zu erkennen. Ich leite in Aachen auch das Zentrum für seltene Erkrankungen und weiß deshalb, wie wichtig es ist, solchen Erkrankungen so früh wie möglich auf die Spur zu kommen. Wir haben in Deutschland rund 4 Millionen Betroffene – hochgerechnet heisst das, ungefähr 5 Prozent der Patienten in einer Hausarztpraxis leiden unter einer seltenen Erkrankung. Meistens erhalten diese Patienten lange Zeit keine Diagnose. Unsere Fragebögen enthalten spezifische Fragen – die Antworten werden von einer KI-Anwendung überprüft. Die KI sagt uns dann, ob eine normale chronische Erkrankung vorliegt, ob es sich möglicherweise um eine psychosomatische Erkrankung handelt, oder ob ein Krankheitsbild aus dem Formenkreis der seltenen Erkrankungen vorliegen könnte. Ein anderes digitales Tool basiert auf Schmerzzeichnungen. Schmerz spielt gerade bei den Rare Diseases eine große Rolle. Menschen mit unterschiedlichen seltenen Erkrankungen haben oft auch ganz verschiedene Schmerzsymptome und -lokalisationen. Durch das Erstellen einer Schmerzzeichnung, bei der die betroffenen Stellen markiert werden, können wir voraussagen, in welchen Formenkreis diese Erkrankung möglicherweise gehört. 

Prof. Martin MückeDas müssen Sie genauer erklären.

Mücke: Nehmen wir die seltenen Muskelerkrankungen – je nach Krankheit gibt es da andere Schmerzlokalisationen. Das kann einmal eine Muskelschwäche im Schulter-Nackenbereich sein, bei einer anderen Erkrankung können die Schmerzen im Beinbereich aufsteigen. Es gibt also verschiedene Schmerzformen und Muster – die KI kann das zuordnen.

Sie arbeiten auch mit Gesichtserkennung?

Mücke: So ist es. Unter anderem setzen wir den so genannten GestaltMatcher ein, der in einem internationalen Projekt entstanden ist, an dem sich auch eine Gruppe von Wissenschaftlern aus Bonn beteiligt. Das Tool kann im äußerlichen Erscheinungsbild Hinweise auf genetische Varianten entdecken, die mit bestimmten seltenen Erkrankungen verknüpft sind. Die KI macht dann Vorschläge, um welche Krankheit es sich handeln könnte – und wir können dann die Diagnose weiter vorantreiben.    

Zum Thema „Seltene Erkrankungen“ gibt es auch einen spannenden Podcast mit Ihnen und der an Gesundheitsthemen interessierten Schauspielerin Esther Schweins. Was hat es damit auf sich?

Mücke: Der Podcast heißt „Unglaublich krank“ und nimmt die Zuhörer:innen mit auf eine Reise von den ersten beunruhigenden Symptomen bis zur überraschenden Diagnose. Neben den Phänomenen der seltenen Erkrankungen gehen wir, in diesem ebenso unterhaltsamen wie lehrreichen Format, auch auf allgemeinmedizinische Aspekte und moderne Diagnostikverfahren ein. In jeder Episode erzählen wir ein persönliches Patientenschicksal und begeben uns auf die Fährte einer rätselhaften Krankheit. Der erfolgreiche Podcast ist bei Apple, Spotify und allen anderen großen Plattformen abrufbar und geht im nächsten Jahr bereits in die dritte Staffel. 

Sie befassen sich auch mit dem digitalen Strukturwandel in der Medizin. Was bedeutet das konkret? Und warum ist dieser Strukturwandel so wichtig?

Patientendaten
Viele Menschen erheben ständig Daten – ohne sich dessen bewusst zu sein. Foto: ©iStock.comipopba

Mücke: Das fängt beim Wartezimmer-Management an – digitale Systeme können dabei helfen, überfüllte Wartezimmer zu vermeiden. Es gibt aber noch viel entscheidendere Vorteile für die Patienten. Viele Menschen erheben ja ständig Daten, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein – etwa, weil sie eine Smartwatch tragen oder sich Zuhause auf eine digitale Waage stellen. Letztere kann gerade für Menschen mit einer Herzinsuffizienz hilfreich sein, weil man etwa durch eine Gewichtszunahme erkennen kann, wie gut eine Herzinsuffizienz eingestellt ist und wie sie sich verändert – natürlich nur, wenn man die Daten schon frühzeitig bereitstellt. Durch die Verwendung solcher Patientendaten können wir die Prävention verbessern und auch in der Therapie einiges deutlich besser steuern – das machen wir an unserem Institut für Digitale Allgemeinmedizin. Auf der anderen Seite hilft die Digitalisierung auch dabei, den Patienten ihre Daten besser und einfacher zur Verfügung zu stellen. 

Allerdings muss ich hinzufügen: Daten haben nur dann einen Nutzen, wenn sie auch für wissenschaftliche Zwecke zur Verfügung stehen. Und genau hier gibt es ein großes Problem.

Inwiefern?

Mücke: Die Bereitstellung umfassender medizinischer Daten ist einfach nicht gewährleistet. Das hat zum einen Datenschutzgründe, aber es hat auch strukturelle Gründe. Die Universitätskliniken können zum Beispiel nicht ohne Weiteres Daten untereinander austauschen. Sondern das läuft über die Datenintegrationszentren – und hier besteht in Deutschland das große Problem, dass es noch keine Einigung darüber gibt, wie diese Daten bereitgestellt werden und wer welche Daten liefern muss. Stattdessen behalten alle die Macht über ihre Daten.

Wie könnte dieses Problem gelöst werden?

Mücke: Wir arbeiten daran, aber wir haben noch kein Patentrezept dafür. Es gab ja große Projekte, die sich in den letzten Jahren damit beschäftigt haben und es trotzdem immer noch nicht hinbekommen haben. 

Woran scheitert es bislang?

Mücke: Das ist ein Gesamtproblem. Ich denke, wir müssten neben dem Datenschutzbeauftragten auch einen Datennutzungsbeauftragten haben, der überlegt, wie Daten zum Nutzen des Patienten eingesetzt werden können – und auch zur Verbesserung der Versorgungsstruktur. Wir reden immer von Datenschutz, aber die andere Seite blenden wir aus. Es wäre aus meiner Sicht sinnvoll, auf Bundesebene einen solchen Datennutzungsbeauftragten zu installieren.

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