Was ist ein Gesundheitskiosk und wozu wird er gebraucht?
Prof. Eva Wild: Der Gesundheitskiosk ist eine niedrigschwellige Stadtteil-Institution, die die medizinische Versorgung unterstützen soll. Das Neue an diesem Modell: Es soll eine Schnittstelle zwischen Medizin und Sozialraum sein. Anders gesagt: Die Menschen können sich im Gesundheitskiosk umfassend zu gesundheitlichen Fragen beraten lassen, insbesondere auch zu Fragen der Gesundheitsvorsorge.
Wer arbeitet in einem Gesundheitskiosk?
Wild: Medizinisch ausgebildetes Fachpersonal, das über umfangreiche Erfahrungen in der Krankenpflege verfügt. Ein wesentliches Merkmal der Personalstruktur ist der multiprofessionelle Ansatz. Vorbild dafür sind die so genannten Community Health Nurses, die es in anderen Ländern schon länger gibt, etwa in den USA. Im Koalitionsvertrag sind solche Community Health Nurses als neues Berufsbild vorgesehen und inzwischen gibt es in Deutschland auch schon Studiengänge dafür. Diese Community Health Nurses arbeiten in engem Austausch mit den ansässigen Ärzt:innen und sind zugleich eng mit Sozialarbeiter:innen und sozialen Einrichtungen in der jeweiligen Region vernetzt. So gibt es bei uns in Hamburg Kooperationsvereinbarungen zwischen dem Gesundheitskiosk und verschiedenen sozialen Einrichtungen – denn man will ja keine Doppelstruktur aufbauen, sondern vorhandene Ressourcen in den Regionen nutzen.
Wer besucht einen solchen Kiosk und mit welchen Anliegen kommen die Menschen?
Wild: Das ist sehr unterschiedlich. Übergeordnet geht es darum, die Menschen durch das Gesundheitssystem zu lotsen. Ebenso wichtig sind Präventionsangebote, die zu einer Verbesserung des Gesundheitszustandes, aber auch der Gesundheitskompetenz führen können.
Welche praktischen Beispiele gibt es dafür?
Wild: Das kann eine Beratung zu Arzneimitteln sein – brauche ich dafür ein Rezept, wie und wie oft muss ich sie einnehmen, welche Wirkungen und Nebenwirkungen haben sie? Dann gibt es natürlich Unterstützung bei der Suche nach Haus- und Fachärzt:innen. Ganz wichtig: Im Kiosk gibt es eine Vor- und Nachbesprechung von Arztbesuchen – und zwar in Muttersprache. Die Klient:innen bringen auch Dokumente von ihren Arztbesuchen mit, die dann gemeinsam durchgesprochen werden.
Gibt es Themen, die besonders häufig angesprochen werden?
Wild: Ein zentraler Themenblock ist Ernährungsberatung. In Hamburg-Billstedt betreffen rund 40 Prozent der Beratungen das Thema Übergewicht. Aber es gibt auch Beratungen zu psychischen Beschwerden oder zur Vermittlung in andere Einrichtungen – das können Kindertages-Einrichtungen, Schulen, Senior:innen-Einrichtungen und viele andere sein. Und es gibt ein umfangreiches Kursangebot – etwa ein „Rückenfit-Programm“ oder Kurse zu gesunder Ernährung.
Erfolgt auch eine Impfberatung?
Wild: Selbstverständlich. Gerade in der Covid-19-Pandemie gab es da einen großen Bedarf. Die Impfberatung umfasst nicht nur Corona-Impfungen, sondern alle von der Ständigen Impfkommission empfohlenen Impfungen in Deutschland.
Gibt es feste Vorgaben, zu welchen Themen die Beratungen erfolgen?
Wild: Nein, es gibt keinen Standardkatalog zu den Beratungen, sondern es geht um eine bedarfsgerechte Versorgung. Es wird geschaut, welche Probleme und welchen Bedarf es in der jeweiligen Region gibt. Die Impfbereitschaft zum Beispiel hängt ja auch zusammen mit dem Migrationshintergrund und der Gesundheitskompetenz. Deshalb wurde in Hamburg-Billstedt ein umfassendes Impfberatungsangebot geschaffen, das zunächst einmal Aufklärungsarbeit geleistet hat.
Erfolgen dort auch medizinische Behandlungen?
Wild: Eine Behandlung, wie sie bei den Ärzt:innen stattfindet, gibt es nicht. Der Gesundheitskiosk konkurriert nicht mit den Hausärzt:innen, sondern kooperiert mit ihnen.
Sie haben den Aufbau des ersten Gesundheitskiosks in Deutschland in Hamburg-Billstedt wissenschaftlich begleitet. Was genau haben Sie da gemacht?
Wild: Wir haben den Erfolg des Projektes aus den Perspektiven aller Zielgruppen evaluiert. Wir haben uns also angesehen: Was bringt das Projekt den Ärzt:innen vor Ort, welche Vor- und Nachteile entstehen für die Krankenkassen und wie sehen die Ergebnisse für die Patient:innen aus? Dazu haben wir Fragebögen entwickelt, aber auch die Routinedaten der gesetzlichen Krankenkassen analysiert und sie teilweise mit den Befragungsdaten verknüpft.
Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen?
Wild: Kurz gesagt: Die Nutzung des Kiosks führte zu einer Verbesserung der Gesundheitsversorgung – das zeigte sich insbesondere an einem Rückgang der Krankenhausfälle, die durch eine effiziente ambulante Versorgung vermeidbar sind. Die Zahl der ambulanten Arztbesuche nahm zunächst zu, vermutlich, weil im Kiosk ein ungedeckter medizinischer Bedarf entdeckt wurde. Auf der anderen Seite gab es eine Arbeitserleichterung für die Ärzt:innen – dank eines zentralen Instrumentes, das erstmalig in Deutschland eingesetzt wurde.
Welches Instrument?
Wild: Social Prescribing. Das ist eine Überweisung – nur eben nicht zu Fachärzt:innen, sondern zum Gesundheitskiosk. Patient:innen mit einer solchen Überweisung haben das Angebot häufiger und kontinuierlicher genutzt als Menschen, die eher zufällig vorbeigekommen sind. Für die Ärzt:innen war es eine Erleichterung, weil sie Patient:innen, die eigentlich keine medizinischen Anliegen hatten, zu den richtigen Ansprechpartnern schicken konnten. Es gibt ja Kulturkreise, in denen der Hausarzt auch zu familiären Konflikten berät. Das ist in Deutschland anders. Deshalb ist es gut, wenn die Ärzt:innen sagen können: Hier liegt kein medizinisches Problem vor, aber der Patient muss trotzdem versorgt werden – also überweise ich ihn an einen Kiosk. Der Arzt kann dabei eine Empfehlung aussprechen, welche Angebote seine Patient:innen im Kiosk nutzen sollen.
Das Gesundheitsministerium plant, in Deutschland rund 1.000 Gesundheitskioske einzurichten: Welche Erfahrungen aus Hamburg-Billstedt lassen sich auf diese neuen Projekte übertragen?
Wild: Es ist essentiell, einen akuten lokalen Bedarf abzudecken. Das Angebot sollte also auf die jeweilige Region ausgerichtet sein. Dafür ist es notwendig, die Angebote gemeinsam mit den verschiedenen Akteuren zu entwickeln – nicht nur mit der Management-Gesellschaft, sondern auch mit Ärzt:innen, sozialen Stadtteil-Einrichtungen, Patientenbeiräten vor Ort. Und: Solche Projekte brauchen Zeit und sie brauchen finanzielle Ressourcen.
Weil Sie gerade vom Geld sprechen – was kostet so ein Gesundheitskiosk und wer bezahlt ihn?
Wild: Das lässt sich nicht pauschal sagen. Denn es hängt ja auch davon ab, was schon vorhanden ist und wie groß so ein Kiosk sein muss. Wenn ein neues Gebäude errichtet werden muss, ist das teurer, als wenn die Gemeinde günstige Räume bereitstellt oder ein Bus als Kiosk genutzt wird. Zu den Kostenträgern: Die Finanzierung wird momentan noch diskutiert. Das Initiativrecht zur Errichtung eines Gesundheitskiosks liegt bei den Kommunen. Sie übernehmen einen Teil der Kosten – aber auch die Krankenkassen müssen sich beteiligen.
Weitere News
Niereninsuffizienz: Die unbekannte Volkskrankheit
Bei 8 bis 10 Millionen Menschen in Deutschland funktionieren die Nieren nicht so wie sie sollten. Neben Krankheiten wie Krebs, Diabetes oder Herzkreislauf-Leiden fristet die chronische Niereninsuffizienz (CKD) ein Schattendasein – mit schweren Folgen für die Gesundheit der betroffenen Menschen und die Budgets der Sozialsysteme. Dabei lässt sich die Krankheit früh erkennen und entsprechend behandeln.
Forschung: Bevölkerung möchte Gesundheitsdaten freigeben
„Die Bevölkerung vertraut der medizinischen Forschung und will ihre Daten mit überwältigender Mehrheit freigeben“: So fasst EPatient Analytics, ein Spezialdienstleister für Markt- und Zielgruppenanalysen, eine Studie zusammen, für die 5.000 Menschen befragt wurden. Die Hoffnung: bessere medizinische Forschung – und eine bessere Behandlung sowie individuelle Präventionsangebote. Nun ist die Politik gefragt.
Braucht das Gesundheitssystem eine Zeitenwende?
Die Debatte um die desolaten Finanzen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) lässt es erahnen: Im deutschen Gesundheitswesen rappelt es gehörig. Im Dreieck zwischen medizinischem Fortschritt, demographischer Entwicklung und digitaler Transformation ist langfristig eine qualitativ hochwertige Versorgung von Patient:innen gefährdet. Hinzu kommt: Auch ohne diese Entwicklungen leistet sich Deutschland seit Jahrzehnten ein System, das deutlich effizienter sein könnte.