Die Deutsche Krebsgesellschaft hat 2 onkologische Spitzenzentren als erste Zentren für Personalisierte Medizin zertifiziert – ein Interview mit dem Direktor des Charité Comprehensive Cancer Center. Foto: ©iStock.com/Spotmatik
Die Deutsche Krebsgesellschaft hat 2 onkologische Spitzenzentren als erste Zentren für Personalisierte Medizin zertifiziert – ein Interview mit dem Direktor des Charité Comprehensive Cancer Center. Foto: ©iStock.com/Spotmatik

Personalisierte Medizin: Was die Zertifizierung zweier onkologischer Spitzenzentren für Krebspatient:innen bedeutet

Zertifizierte Krebszentren gibt es schon länger – aber nun haben mit der Charité in Berlin und dem Universitätsklinikum Freiburg die ersten Standorte auch eine Zertifizierung als „Zentrum für Personalisierte Medizin“ erhalten. Was das bedeutet und wie Krebspatient:innen mit einem solchen Zentrum in Kontakt kommen können, darüber haben wir mit Professor Dr. Ulrich Keilholz gesprochen. Er ist Direktor des Charité Comprehensive Cancer Center und zugleich stellvertretender Vorsitzender der Zertifizierungskommission ZPM.

Die Deutsche Krebsgesellschaft hat die bundesweit ersten beiden Zentren für Personalisierte Medizin zertifiziert. Was ist das Besondere an diesen Zentren?

Prof. Dr. Ulrich Keilholz: Dort werden Therapieempfehlungen auf Basis der Genom-Medizin erarbeitet – für Patienten, bei denen die Standardtherapie nicht zum Erfolg geführt hat oder bei denen es keine Standardtherapie gibt, etwa, weil sie unter einer seltenen Krebserkrankung leiden.

Professor Dr. Ulrich Keilholz, Direktor des Charité Comprehensive Cancer Center und stellvertretender Vorsitzender der Zertifizierungskommission ZPM
Professor Dr. Ulrich Keilholz. Foto: privat

Bauen diese Zentren auf den Erfahrungen auf, die in anderen zertifizierten Krebszentren gesammelt wurden?

Keilholz: Das kann man so sagen. Es gibt ja schon seit über 15 Jahren Zertifizierungen für Organkrebszentren. Zuerst gab es Brustkrebs- und Darmkrebszentren – dort wurde klar geregelt, dass und wie verschiedene Fachdisziplinen zusammenarbeiten. Es hat also nicht mehr der Chirurg entschieden, ob er operiert, sondern es gab interdisziplinäre Konsultationen. Vertreter verschiedener Fachbereiche bringen seither ihr Wissen ein, um die bestmögliche Therapie-Entscheidung zu treffen. In der Personalisierten Medizin ist das jetzt noch um einiges komplizierter: Hier kommen nicht nur medizinische Fachbereiche zusammen, sondern es wird auch die Tumorforschung einbezogen – die Molekularbiologie, die Tumorbiologie, die Bioinformatik. Sie alle sind erforderlich, um Tumoren genau zu charakterisieren. Dieses Verfahren ist sowohl vom Management her als auch unter klinisch-wissenschaftlichen Aspekten extrem anspruchsvoll und spannend – und klinische Entscheidungen werden dadurch so wissenschaftsnah wie möglich getroffen.  

Weshalb stehen die Zentren für Personalisierte Medizin nur Patient:innen mit fortgeschrittenen oder seltenen Krebserkrankungen offen?

Keilholz: Die meisten Krebserkrankungen kann man ja zum Glück heilen – durch Operationen und/oder Strahlentherapie. Für alle häufigen Krebserkrankungen gibt es sehr ausgefeilte Standardtherapien. Aber für seltene Krebserkrankungen, die insgesamt doch ein Viertel aller Krebserkrankungen ausmachen, gibt es eben keine klaren Standards, weil es keine ausreichende Basis an Fällen gibt. In diesen Situationen untersuchen wir die Tumore und erstellen umfassende Genom-Analysen mit dem Ziel, zu verstehen: Was treibt den Krebs? Welche Signalwege sind falsch geschaltet? Wo sind Mutationen, die relevant sind für das Fortschreiten der Krebserkrankung? Daraus wollen wir dann neue Behandlungsansätze für die einzelnen Patienten entwickeln.

Kommt daher auch der Begriff „Personalisierte Medizin“?

Keilholz: Nun, was ich eben beschrieben habe, fällt unter den Begriff „Präzisionsonkologie“ – man versucht, die Biologie der Erkrankung so genau wie möglich zu erfassen und dann zu sehen, welche Behandlungsansätze sich daraus ergeben. Die Präzisionsonkologie ist ein Teil der Personalisierten Medizin, die aber noch mehr umfasst – die Personalisierte Medizin berücksichtigt den individuellen genetischen Hintergrund, aber auch Dinge wie sozialen Hintergrund, Lebenssituation oder Therapieziele. Es geht also nicht nur darum, biologisch gesteuerte Medizin einzusetzen, sondern es kommt darauf an, diese biologische Erkenntnis ganz strukturiert in eine verantwortungsvolle Betreuung der Patienten mit einfließen zu lassen.

Was passiert, wenn eine Patientin oder ein Patient neu zu Ihnen ins Zentrum für Personalisierte Medizin kommt?

Keilholz: Wir schauen zunächst, ob es aktuelle Proben von Tumorgewebe gibt oder ob wir eine neue Probe entnehmen müssen, die wir dann eingehend untersuchen – wir nehmen also Sequenzier-Untersuchungen und andere Untersuchungen vor, um den Tumor biologisch zu verstehen.

Wie geht es dann weiter?

Keilholz: Wenn wir die Analysen gemacht haben, die nach einem klar aufgesetzten Schema erfolgen, dann besprechen wir die Ergebnisse gemeinsam mit den Pathologen in unserer molekularen Tumorkonferenz. Daran nehmen zusätzlich zu internistischen Onkologen weitere Fachärzte teil, je nach Erkrankung zum Beispiel Gynäkologen, Gastroenterologen oder Pneumologen, also die Kliniker – und eben auch Tumorbiologen und Bioinformatiker; zudem Humangenetiker, die prüfen, ob die Erkrankung eine erbliche Komponente hat. Sie alle versuchen, aus dem Verständnis der Erkrankung abzuleiten, was für Behandlungsoptionen es gibt. 

Zertifizierungskriterien
Für eine Zertifizierung: Strukturierte, qualitätsgesicherte Arbeit. Foto: ©iStock.com/Spotmatik

Welche Kriterien müssen die Zentren für eine Zertifizierung erfüllen?

Keilholz: Wichtig ist, dass das eine strukturierte, qualitätsgesicherte Arbeit ist. Die Charité in Berlin und das Universitätsklinikum Freiburg sind ja die ersten Zentren für Personalisierte Medizin, die zertifiziert wurden. Es handelt sich also um Pilotzertifizierungen, für die wir uns ausschließlich die Prozessqualität angesehen haben – denn es gibt noch keine Benchmark, also keinen Vergleichsmaßstab für die Ergebnisqualität. Das wird in 2 bis 3 Jahren der Fall sein, dann werden wir anfangen, die Zertifizierung so zu erweitern, dass auch Ergebnisqualität analysiert wird. Dieser Prozess hat auch bei den Organkrebszentren ungefähr 10 Jahre gedauert – erst dann konnte man sagen: „Das ist ein Topzentrum, da stimmt alles.“ Das Zertifizierungssystem entwickelt sich also im Laufe der Zeit immer weiter. Aber die größte Auswirkung hat die Erstzertifizierung, weil dort die Prozesse klar durchleuchtet und verbessert werden – dieser Zugewinn an Prozessqualität bringt unglaublich viel.

Wird es in absehbarer Zeit weitere zertifizierte Zentren für Personalisierte Medizin geben? 

Keilholz: Ich hoffe, dass in 3 Jahren alle onkologischen Spitzenzentren, die so genannten Comprehensive Cancer Center, zertifizierte Zentren für Präzisionsonkologie, haben. 

Was können Menschen nach einer Krebsdiagnose tun, um mit einem zertifizierten Zentrum für Personalisierte Medizin in Kontakt zu kommen?

Krebsdiagnose
Personalisierte Medizin als fester Bestandteil der Krebsbehandlung. Foto: ©iStock.com/wildpixel

Keilholz: Ganz einfach: Bei uns in der Hotline anfragen. Dort wird dann geprüft, ob diese Diagnostik in diesem Einzelfall sinnvoll ist. Wenn ja, dann bieten wir diese Diagnostik an oder empfehlen dem Patienten ein anderes Zentrum in seiner Nähe. Auch das Freiburger Universitätsklinikum hat eine solche Hotline und auf der Website der Deutschen Krebsgesellschaft finden sich ebenfalls Informationen. Rund die Hälfte der Patienten wird übrigens von ihren behandelnden Onkologen zu uns überwiesen, die andere Hälfte kommt aus eigenem Antrieb – das ist unkompliziert möglich. 

Werden diese Zentren dazu beitragen, dass die Personalisierte Medizin zu einem festen Bestandteil der Krebsbehandlung wird?

Keilholz: Unbedingt. Teilweise ist das schon der Fall. So gibt es bei Patienten mit Lungenkarzinom bereits das aus der Uniklinik Köln organisierte Nationale Netzwerk genomische Medizin, das dafür gesorgt hat, dass bei Patienten mit Lungenkarzinom primär eine molekulare Diagnostik erfolgt – nur in einem eingeschränkten, unbedingt notwendigen Rahmen, aber systematisch und klar strukturiert. Wir zum Beispiel übernehmen die molekulare Analyse für regionale Kliniken mit vielen Lungenkarzinom-Patienten und besprechen sie in unserer Tumorkonferenz. Die Therapieoptionen, die sich daraus ergeben, teilen wir dann der jeweiligen Klinik mit. Die Patienten müssen sich also nicht bei uns vorstellen, es sei denn, der Fall ist besonders kompliziert. 

Welche Rolle spielt der Datenschutz bei der genomischen Diagnostik?

Keilholz: Das ist ein Kapitel für sich, denn falsch verstandener Datenschutz macht unsere Arbeit nicht gerade einfacher.

Wie meinen Sie das?

Falsch verstandener Datenschutz?
Datenschutz: Informationen werden langsamer übermittelt. Foto: ©iStock.com/marchmeena29

Keilholz: Genetische Analysen sind besonders schützenswert, vor allem, wenn sich Zufallsbefunde ergeben, die vielleicht auch eine familiäre Belastung erkennen lassen – das betrifft dann auch andere Familienmitglieder. Deswegen bauen die Datenschützer da relativ hohe Anforderungen ein, was grundsätzlich auch richtig ist. Nur, wenn die Anforderungen unpraktikabel sind, dann erschweren sie den Prozess und sind für den Patienten gefährlich, weil die Diagnostik und die Informationen dazu viel langsamer und teilweise zu spät übermittelt werden. 

Wieso das? Eine E-Mail ist doch schnell verschickt.

Keilholz: Der Datenschutz hat uns zur Auflage gemacht, keine Informationen per E-Mail an die Patienten zu schicken. Nur, wenn die Patienten ein Verschlüsselungssystem haben, können Sie verschlüsselte E-Mails von uns empfangen. Das hat sozialen Sprengstoff, weil sich natürlich nur bestimmte Bevölkerungsgruppen Endgeräte mit dieser Verschlüsselungstechnologie leisten können. Das ist ein Beispiel für Hürden, die aufgebaut werden und uns sogar in Richtung einer Zwei-Klassen-Medizin führen könnten. Das darf natürlich nicht sein. Aber vielleicht ist der Begriff „Datenschutz“ schon falsch gewählt. Denn es sollte im Grunde nicht darum gehen, Daten zu schützen, sondern die Patienten zu schützen – vor dem Missbrauch ihrer Daten, aber eben auch vor den Auswirkungen ihrer Krebserkrankung.

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