Es sind vielleicht die 4 entscheidenden Treiber, um Krebserkrankungen in den kommenden Jahren noch besser in Schach halten zu können: Da ist die Prävention, denn jeder zweite Krebsfall gilt als vermeidbar. Da ist die Immunonkologie, die schon heute zu bahnbrechenden Erfolgen führt. Und aus der Möglichkeit, jede Körperzelle einzeln vermessen zu können (Einzelzell-Analysen), erwarten Expert:innen einen großen Erkenntnisschub, der die Entwicklung hochspezifischer Therapien beschleunigen wird.
Und dann ist da die Digitalisierung. Denn eine datengetriebene Medizin ist die Grundlage dafür, dass die Wissenschaft aus jeder einzelnen Krankheitsgeschichte etwas lernen kann. Nur durch die Auswertung von Daten lassen sich in der hochkomplexen Welt der menschlichen Biologie die Ansätze finden, die einen Tumor entstehen und wachsen lassen. Diese Erkenntnisse sind unbedingte Voraussetzung für die Entwicklung neuer Therapien.
Deutschland am Scheideweg: 2 Digitalgesetze in 2023
Was die Datennutzung im deutschen Gesundheitswesen angeht, steht das Land gerade in einer entscheidenden Phase. Der Bundesgesundheitsminister hat für dieses Jahr 2 Digitalgesetze angekündigt:
- Mit dem Digitalgesetz soll unter anderem die elektronische Patient:innen-Akte (ePA) für alle Versicherten eingerichtet werden – mit einem Opt-Out-Verfahren, das ihnen die Möglichkeit gibt, dagegen zu sein. Auch das E-Rezept soll kommen.
- Das Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) soll den Zugang zu Gesundheitsdaten regeln und vor allem die Verknüpfung verschiedener Datenquellen möglich machen. Im Forschungsdatenzentrum Gesundheit (FDZ) soll künftig auch die forschende Industrie Anträge auf Datenzugang stellen können. Ohne das GDNG fehlt die Infrastruktur und die „digitale Straßenverkehrsordnung“.
Die beiden Gesetze und die Art und Weise ihrer Umsetzung werden darüber entscheiden, ob Deutschland noch die Chance hat, Anschluss an den Highspeed-Train der globalen Digitalisierung zu bekommen. Das war die Botschaft der Expert:innen, die auf dem Vision Zero-Summit 2023 darüber sprachen, wie man der Vision einer Null in der Onkologie – jeder Krebstote ist einer zu viel – näher kommen kann.
Datennutzung: Es geht um Leid und Leben der Patient:innen
Professor Dr. Alena Buyx, Ärztin und Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, sieht eine Asymmetrie: „Es ist ja klar, dass man Gesundheitsdaten schützen muss. Aber wenn man die Datennutzung nicht ebenfalls so ernsthaft betreibt, erleiden wir drastische Verluste.“ Soll heißen: Der Fokus liegt einseitig auf der Sicherheit der Daten, die Sicherheit der Menschen mit Erkrankungen wird weitgehend ignoriert. „Wir haben ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Aber gleichzeitig haben wir das Recht, am medizinischen Fortschritt teilzuhaben – es geht um Leid und Leben von Patientinnen und Patienten.“ Die Medizinethikerin plädiert für einen besseren Ausgleich zwischen berechtigten Datenschutzanforderungen auf der einen und den medizinischen Möglichkeiten für kranke Menschen durch die Nutzung von Daten auf der anderen Seite. Sie sieht die Ursache des Ungleichgewichts in „einer unglaublich restriktiven Datennutzungskultur. Das zu überwinden, ist das Schwierigste von allem.“ Professor Buyx hofft auf „mutige Gesetzgebung: Traut Euch“, sagte sie in Richtung Bundesgesundheitsministerium.
Pharmaforschung: „Ziemlich viel Forschung für ziemlich viel Allgemeinwohl“
Professor Christof von Kalle vom Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIH) an der Berliner Charité setzte noch einen drauf: „Informationelle Selbstbestimmung bedeutet immer nur Verweigerung. Aber was ist eigentlich mit den Patienten, die möchten, dass das Maximale aus ihren Daten herausgeholt wird? Ich habe morgens das Blut auf dem Taschentuch, ich habe ein anderes Problem als Datenschutz: Ich möchte leben.“ Selbstkritisch merkt von Kalle an, dass sich auch die Ansprache ändern müsse: „Wir fragen die Patienten, ob sie damit einverstanden sind, ihre Daten zur kommerziellen Nutzung freizugeben. Wir sollten sie aber besser fragen, ob sie damit einverstanden sind, dass mit ihren Daten neue Medikamente entwickelt werden.“ Auch die Abgrenzung zwischen Forschung für das Allgemeinwohl versus Pharmaforschung sieht der Onkologe kritisch. Die Pharmaforschung in der Pandemie mit ihren Impfstoffen und Arzneimitteln bewertete er als „ziemlich viel Forschung für ziemlich viel Allgemeinwohl.“
Der Chef von Novartis Deutschland, Heinrich Moisa, wird das gerne gehört haben. „Wir brauchen ein Forschungsbiotop, es muss eine Forschungsgemeinschaft da sein.“ Was die Zukunft angeht, ist er sehr optimistisch: „Ich sehe 3 Megatrends: Unser Verständnis der Zellbiologie wird immer größer. Wir haben Daten. Und die Rechnerleistung wird immer stärker.“ Die Frage allerdings sei, ob Deutschland noch vorne mitspielen werde. „Wir brauchen eine Verknüpfung von Forschung, Wirtschaft und Patientennutzen. Denn: Gesundheitspolitik ist Forschungspolitik, ist Innovationspolitik, ist Wirtschaftspolitik, ist Arbeitsplatzpolitik. Das müssen wir als Einheit denken.“
Digitalisierung: Auch eine Frage für die Versorgung in der Zukunft
Auf einen ganz anderen Aspekt der Digitalisierung machte Professor Dr. Hejo Kroemer aufmerksam. Er leitet die Charité, eine der größten Universitätskliniken Europas: „Wenn Sie sich ansehen, womit wir in den nächsten Jahren aufgrund des demografischen Wandels zu rechnen haben, nämlich mit relativ wenigen Menschen, die therapieren können, die auf relativ viele Menschen treffen, die therapiebedürftig werden – dann stehen wir vor großen gesellschaftlichen Herausforderungen.“ Die Digitalisierung ist aus diesem Zwiespalt gar nicht wegzudenken: Denn nur wenn digitalisiert wird, was digitalisiert werden kann, werden die Menschen in ein paar Jahren überhaupt noch die Möglichkeit auf eine gute Versorgung haben – einfach, weil sonst Menschen fehlen, die sich um sie kümmern können. „Deshalb halte ich auch den Aspekt der Prävention für außerordentlich wichtig“, so Professor Kroemer: „Wenn es uns nicht gelingt, die Zahl der Erkrankungen deutlich zu senken, werden wir das System nicht auf diesem Niveau halten können.“
Ganz besonders für die Onkologie gilt: Nur die datengetriebene Medizin stellt das einzelne Individuum in den Mittelpunkt. Nur eine digitale Onkologie macht personalisierte Präzisionstherapie möglich. Die Hürden abzubauen, ist Aufgabe der Politik. Mit Blick auf das laufende Gesetzgebungsverfahren lautete die Botschaft von Deutschlands oberster Ethikerin, Professorin Buyx, an den Gesetzgeber: „Zerschießen Sie es nicht.“
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