Die Immunonkologie ist eine intelligente Form der Krebstherapie. Die entwickelten Arzneimittel bekämpfen nicht die Tumore, sondern signalisieren dem Immunsystem, was es tun soll. Krebszellen werden enttarnt und unschädlich gemacht: Immunonkologika helfen der Biologie auf die Sprünge. Bei vielen Krebsarten steigen seitdem die Überlebensraten – zum Teil dramatisch. Besonders gut lässt sich der Fortschritt beim Lungenkrebs zeigen.
In der Zeit vor der Immunonkologie kam für Patient:innen vor allem die Chemotherapie in Betracht. „Das bedeutete für unsere Patienten ein medianes Überleben von 8 bis 10 Monaten“, erklärt Professor Dr. Jürgen Wolf, ärztlicher Leiter des „Centrums für Integrierte Onkologie“ (CIO) in Köln und Mitbegründer des Nationalen Netzwerkes Genomische Medizin Lungenkrebs. „Heute sehen wir mit der personalisierten Immuntherapie bei Menschen mit gestreutem Krebs Überlebenszeiten von 5, 7 und mehr Jahren. Wir haben Patienten mit metastasiertem Lungenkrebs, die 10 Jahre leben – und das mit 2 Tabletten am Tag.“ Für den Onkologen ist das ein „sensationeller Fortschritt“. Was müssen dann erst die Patient:innen sagen? Und ihre Angehörigen?
Die Herausforderung: Medizinischen Fortschritt in die Breite bringen
Doch es gibt ein „Aber“: Die Voraussetzung, um beim Lungenkrebs auch das passende Arzneimittel zu bekommen, ist eine molekulare Testung. Denn das Arzneimittel muss zu dem genetischen Treiber passen. Doch 1/3 der Patient:innen werden nicht getestet, so Professor Dr. Wolf. Die Folge: Sie erhalten keine zielgerichteten Therapien. Oder anders: Lungenkrebspatient:innen leiden und sterben ggf. früher, weil es nach über 10 Jahren immer noch nicht gelingt, alle Betroffenen darauf zu testen, ob für sie die neue Präzisionsmedizin in Frage kommt.
Woran das liegt? Da ist etwa die Tatsache, dass das Wissen in der Onkologie förmlich explodiert, die Behandlungsstandards verändern sich ständig – es ist eine große Herausforderung für Mediziner:innen den Überblick zu behalten. Außerdem sind da strukturelle Hürden – wie etwa eine flächendeckende Finanzierung der Tests.
Mit dem Ziel, die Prognose von Patient:innen mit fortgeschrittenem Lungenkrebs in Deutschland zu verbessern und bestehende Hürden anzugehen, wurde das Nationale Netzwerk Genomische Medizin Lungenkrebs (nNGM) gegründet. Nach dem Motto „zentral testen, dezentral behandeln“ sollen alle Patient:innen mit fortgeschrittenem Lungenkrebs Zugang zu molekularer Diagnostik und innovativen Therapien erhalten. Wie das funktionieren soll? Mit Arbeitsteilung auf hohem Niveau: Das nNGM arbeitet mit 23 Netzwerkzentren und über 400 regionalen Partner:innen – Ärzteschaft und Krankenhäuser – zusammen. Es will verhindern, dass eine möglichst optimale Lungenkrebsversorgung davon abhängt, ob jemand neben einem zertifizierten Spitzenzentrum wohnt oder nicht. Das nNGM will den Innovationstransfer sicherstellen.
Solche spezialisierten Netzwerke haben noch einen Vorteil: Die in der Behandlung generierten Erkenntnisse lassen sich über Datenbanken zusammenführen und auswerten. Diese Informationen aus der realen Versorgung, die Real World Data, sind für die Wissenschaft ein Eldorado; sie machen eine „wissensgenerierende medizinische Versorgung“ möglich: Aus jedem einzelnen Krankheitsfall lässt sich mit Hilfe von Gesundheitsdaten etwas lernen, um den Betroffenen besser zu helfen. Doch mit der Auswertung solcher Daten tut sich Deutschland schwer – auch wegen seiner föderalen Strukturen.
Datenschutz, der sich gegen die Patient:innen richtet
Onkologe Wolf betont, dass „Datenschutz extrem wichtig ist“, aber: „Es ist ja nicht mehr Datenschutz, wenn man Forschungsprojekte auf Basis von Versorgungsdaten dezentral in jedem Bundesland einzeln genehmigen lassen muss und das dann 18 Monate dauert. Spanien ist auch ein föderales Land, aber trotzdem haben sie eine zentrale und digitale Behörde.“ Die langen Prozesse sorgen dafür, „dass Menschen leiden, dass Patienten sterben.“ Sein Kollege Professor Dr. Christof von Kalle von der Charité ergänzt: „Datenschutz und Datensicherheit werden durcheinandergeworfen. Wir müssen nicht die Daten vor den Patienten schützen, sondern wir brauchen die Daten, um den Patienten optimal zu schützen.“
Datennutzung im deutschen Gesundheitswesen? „Nein, wir können da international nicht mithalten“, sagt Professor Dr. Karl Broich, Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArm). „Andere hängen uns da ab.“ Aber er ist trotzdem zuversichtlich: „Wir haben uns jetzt ganz konkret auf den Weg gemacht.“ Zeit wird es, denn Zeit ist, was Lungenkrebspatient:innen in der Regel nicht haben. Dr. Volkmar Borrass, bei dem 2020 ein Lungenkrebs festgestellt und der erfolgreich behandelt wurde, sagt: „Kennen Sie einen einzigen Patienten, der mit Lungenkrebs im Bett liegt und der sagen würde: Diese Art von Datenschutz ist für mich wichtig?“
Weiterführende Links:
Weitere News
Lungenkrebs: Zielgerichtete Therapien machen den Unterschied
Die Prognose nach einer Lungenkrebs-Diagnose ist trotz aller Fortschritte noch immer schlecht. Bei Männern ist sie die häufigste Ursache für Krebstod, bei den Frauen wird damit gerechnet, dass sie bis 2030 in vielen Ländern die Zahl der Brustkrebsdiagnosen überschreiten wird. Für eine steigende Zahl von Patient:innen stehen zielgerichtete Arzneimitteltherapien zur Verfügung. Doch ihr Potenzial wird zu wenig genutzt.
Personalisierte Medizin: Was die Zertifizierung zweier onkologischer Spitzenzentren für Krebspatient:innen bedeutet
Zertifizierte Krebszentren gibt es schon länger – aber nun haben mit der Charité in Berlin und dem Universitätsklinikum Freiburg die ersten Standorte auch eine Zertifizierung als „Zentrum für Personalisierte Medizin“ erhalten. Was das bedeutet und wie Krebspatient:innen mit einem solchen Zentrum in Kontakt kommen können, darüber haben wir mit Professor Dr. Ulrich Keilholz gesprochen. Er ist Direktor des Charité Comprehensive Cancer Center und zugleich stellvertretender Vorsitzender der Zertifizierungskommission ZPM.
Datenspenden für eine bessere Medizin
Gesundheitsdaten insbesondere aus dem Versorgungsalltag bergen ein großes Potenzial, um Medizin besser zu machen. Doch leben kann dieses System nur, wenn sich die Menschen bereiterklären, ihre Daten zu teilen und zu spenden. Auf einer Veranstaltung des forschenden Unternehmens Pfizer diskutierten Expert:innen darüber, wie das Potenzial einer individuellen Datenspende als Beitrag zum medizinischen Fortschritt vermittelt werden kann.