In den vergangenen Jahren sind viele zielgerichtete Therapien gegen Lungenkrebs in die Versorgung gekommen. Aber ein Drittel der Patient:innen, für die die Therapien in Frage kommen, erhält sie nicht. Ein Interview mit Professor Dr. Jürgen Wolf. Foto: ©iStock.com/peterschreiber.media
In den vergangenen Jahren sind viele zielgerichtete Therapien gegen Lungenkrebs in die Versorgung gekommen. Aber ein Drittel der Patient:innen, für die die Therapien in Frage kommen, erhält sie nicht. Ein Interview mit Professor Dr. Jürgen Wolf. Foto: ©iStock.com/peterschreiber.media

Lungenkrebs: Zwischen Fortschritten und Versorgungslücken

Die Behandlung von Lungenkrebs ist ein „sehr dynamisches Feld“, sagt der Lungenkrebsexperte Professor Dr. Jürgen Wolf aus Köln. In den vergangenen Jahren sind viele neue, zielgerichtete Therapien in die Versorgung gekommen. Aber ein Drittel der Patient:innen, für die die Therapien in Frage kommen, erhält sie nicht. Ein Interview.
Lungenkrebsexperte Professor Dr. Jürgen Wolf aus Köln. Foto: Johannes Jost
Lungenkrebsexperte Professor Dr. Jürgen Wolf aus Köln. Foto: Johannes Jost

Professor Dr. Wolf, wo stehen wir heute bei der Behandlung von Lungenkrebs?

Professor Dr. Jürgen Wolf: Wir sehen seit ein paar Jahren einen sensationellen Fortschritt. Früher wurde zur Therapie in den fortgeschrittenen Stadien maßgeblich die Chemotherapie eingesetzt. Das brachte ein medianes Überleben von rund 10 bis 12 Monaten.

Und heute?

Wolf: Heute sehen wir bei Menschen mit gestreutem Krebs Überlebenszeiten von 5, 7 und mehr Jahren. Wir haben jetzt schon Patienten mit metastasiertem Lungenkrebs, die 10 Jahre leben und das mit 2 Tabletten am Tag.

Woran liegt das?

Wolf: Wir behandeln schlicht anders als früher. Die Therapie ist zunehmend molekular gesteuert. Bei vielen Menschen ist ihr Lungenkrebs Folge einer genau identifizierbaren Mutation – für viele dieser Mutationen gibt es zielgerichtete Arzneimittel. Damit hat die Präzisionsmedizin Einzug gehalten: Wir können gezielt den Treiber ausschalten, der die Krankheit treibt. Für die Betroffenen bedeutet das nicht nur neue Lebensperspektiven, sondern auch eine viel bessere Lebensqualität als bei der Chemotherapie. Leider wird ein Drittel der Patienten, die davon profitieren könnten, nicht erreicht.

Warum ist das so?

Wolf: Die Voraussetzung für den Einsatz dieser Präzisionsmedikamente ist eine ausführliche molekulare Testung. Die ist mittlerweile in allen Leitlinien vorgeschrieben, aber viele Patientinnen und Patienten fallen durchs Raster: Sie werden nicht getestet. Und wenn sie nicht getestet werden, dann werden sie auch nicht richtig behandelt.

Und sterben früher…

Wolf: Wir sprechen hier von tausenden verlorenen Lebensjahren – jedes Jahr. Wir haben in Deutschland eigentlich eine gute medizinische Versorgung, aber Innovationen in die Fläche zu bringen, das verschleppen wir.

Was müsste sich ändern?

Wolf: Wir leben inmitten einer hochdynamischen Zeit – das Wissen darüber, wie wir eine Krebserkrankung optimal behandeln, ist in einem ständigen Wandel: Was vergangenes Jahr noch State-of-the-Art war, kann dieses Jahr schon Schnee von gestern sein. Um das zu ändern, müssen wir strukturelle Veränderungen in unserem Gesundheitswesen vornehmen. Wir brauchen eine neue Arbeitsteilung zwischen hochspezialisierten forschungsnahen Zentren und Krankenhäusern und Praxen in der Breite der Versorgung.  Wir bekommen das neu entstehende Wissen sonst nicht mehr in akzeptabler Zeit in die Fläche. 

Warum ist Ihnen diese Arbeitsteilung so wichtig?

Wolf: Weil wir so die Kolleginnen und Kollegen dabei unterstützen können, ihre Patienten optimal zu behandeln. Wie soll ich denn als Onkologe, der ja nicht nur Lungenkrebs, sondern auch andere Krebserkrankungen behandelt, immer auf dem neuesten Stand bleiben? Das erfordert Nähe zur Wissenschaft. In den Zentren können wir sicherstellen, dass die Menschen eine molekulare Diagnostik nach dem neuesten Stand der Wissenschaft erhalten. In den Zentren können wir die Qualitätssicherung, die Interpretation der Befunde, die Durchführung der interdisziplinären Tumorboards und eine kontinuierliche Evaluation leisten. Das muss man übrigens nicht erst neu erfinden: Dazu haben wir das nationale Netzwerk Genomische Medizin Lungenkrebs, kurz nNGM, gegründet.

Was macht das nNGM genau?

Lungenkrebs: Zwischen Fortschritten und Versorgungslücken. Foto: iStock.com/NanoStockk
Lungenkrebs: Zwischen Fortschritten und Versorgungslücken. Foto: iStock.com/NanoStockk

Wolf: Wir setzen auf die Kraft funktionierender Netzwerke. Wir haben mittlerweile 23 Netzwerkzentren – von Berlin bis Würzburg. Und die arbeiten mit 400 Partnern in der Fläche zusammen; das sind regionale Partner, niedergelassene Onkologen und natürlich Krankenhäuser. Das Motto lautet: „Zentral testen und beraten – dezentral behandeln“. In diesem Netzwerk haben schwerkranke Patienten Zugang zu modernster molekularer Diagnostik und neuesten Therapien, auch im Rahmen klinischer Studien. Aber in solchen Netzwerken passiert viel mehr als „nur“ die Diagnostik und Behandlung von Patientinnen und Patienten. Mit dem nNGM sind wir in der Lage, Daten zu sammeln und zu analysieren. Wir treiben damit den Erkenntnisstand voran, um in Zukunft noch erfolgreicher behandeln zu können. Unsere Datenbank umfasst mittlerweile die klinischen und genomischen Daten von 25.000 Patienten, mit kontinuierlich wachsender Tendenz. Diese im Sinne der Wissenschaft – und damit auch im Sinne der Betroffenen – zu nutzen, ist allerdings in Deutschland weiterhin ein Alptraum.

Ein Alptraum? Warum?

Wolf: Der Mehrwert von Gesundheitsdaten liegt in deren Verknüpfung mit anderswo gesammelten Daten. Dazu muss ich aus Datensilos Datenbanken machen. Die Inbetriebnahme der nNGM-Datenbank hat mehr als 18 Monate gedauert. Wir brauchten ein Datenschutzkonzept für jede Uniklinik, für jedes Netzwerkzentrum, wir brauchten Voten von den Landesärztekammern, den Ethikkommissionen – insgesamt eine Flut von Verträgen und Einwilligungserklärungen.

Aber die Anforderungen an den Datenschutz sind ja gerade im Gesundheitsbereich zu Recht besonders hoch…

Wolf: Natürlich, Datenschutz ist extrem wichtig. Aber es ist ja nicht ein Mehr an Datenschutz, wenn sich in Deutschland Dutzende von Ethikkommissionen und Datenschutzbeauftragte mit ein und derselben Frage beschäftigen und man eine Flut von Einzelanträgen stellen muss. Schauen Sie in europäische Nachbarländer, zum Beispiel Spanien, da ist es zum Teil bei einer zentralen Instanz und digitalisierten Antragsverfahren eine Frage von wenigen Tagen, was bei uns 6 bis 18 Monate dauern kann. Bei der Zahl der durchgeführten klinischen Studien laufen uns die Spanier deshalb gerade davon. Und was wir auch nicht vergessen sollten: In der Zeit, in der wir uns mit den Ethikkommissionen herumgeschlagen haben, sind tausende von Patienten gestorben, weil sie nicht getestet wurden.

Was muss in Sachen Datenschutz aus Ihrer Sicht passieren?

Wolf: Wir brauchen einen Ausgleich zwischen den berechtigten Datenschutzanforderungen und dem, was sich durch Datennutzung im Sinne der Patienten erreichen lässt. Wenn Sie Lungenkrebs auf molekularer Ebene behandeln wollen, kommen sie sehr schnell zu sehr kleinen Subgruppen – manche der Mutationen finden wir nur in 1, 3 oder 5 Prozent der Patienten. Auf Basis solcher Zahlen kann man oft keine klassischen randomisierten Studien mehr durchführen. Deshalb brauchen wir die konsequente Nutzung von Daten aus Registern und Datenbanken. Aber das wird durch Regularien verhindert. Die deutschen Behörden tun sich schwer mit dieser Entwicklung. Wenn Sie so wollen, leben sie noch in der klassischen Ära der Chemotherapie, mit Instrumenten, die diesen Herausforderungen aber nicht mehr gewachsen sind.

Professor Dr. Jürgen Wolf. Foto: Johannes Jost
Professor Dr. Jürgen Wolf. Foto: Johannes Jost

Was muss noch passieren, damit der medizinische Fortschritt auch da ankommt, wo er gebraucht wird?

Wolf: Die Präzisionsmedizin ermöglicht längeres Überleben bei besserer Lebensqualität, weil wir aber den Innovationstransfer in Deutschland verschleppen, profitieren viele Patienten nicht davon. Deshalb sollten qualitätsgesicherte Netzwerkstrukturen verpflichtend werden. Außerdem brauchen wir für Forschungsvorhaben zentrale Genehmigungsbehörden, denn die föderale Bürokratie und ein patientenfeindlicher Datenschutz verhindern die effektive Nutzung von Daten. Und natürlich brauchen wir einen Datenschutz im Sinne der Patientinnen und Patienten. Wenn wir durch Datennutzung Leben retten können – und das können wir – dann besteht aus meiner Sicht auch eine Verpflichtung zur Nutzung solcher Daten.

Weiterführende Links: Nationales Netzwerk Genomische Medizin (nNGM)

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