Das „neue“ Deutschland-Tempo ist schon länger in vielerlei Munde – spätestens seitdem es gelungen ist, in wenigen Monaten Flüssiggasterminals aus dem Meer zu stampfen. Fragt man erfahrene Unternehmenslenker:innen in pharmazeutischen Unternehmen, wie sie das Tempo in der Arzneimittelforschung wahrnehmen, ist Begriff „Deutschlandtempo“ wohl eher eine Drohung. Denn genau das haben die Studienautor:innen von vfa und Kearney gemacht. Und siehe da: Beim Tempo klaffen Erwartungshaltung und Ist-Zustand am weitesten auseinander (s. Grafik). „Wir sind im internationalen Wettbewerb entscheidend an Geschwindigkeit interessiert“, sagt Dr. Matthias Meergans, Geschäftsführer für Forschung und Entwicklung beim vfa. Soll heißen: Der Wettbewerb ist hart. Und die Konkurrenz schläft nicht.
Auf Deutschlands Forschungsautobahnen herrscht ein striktes Tempolimit – gerade, wenn es um klinische Studien geht. Weitere Problemfelder haben die Manager:innen bei der Verfügbarkeit und Nutzbarkeit von Gesundheitsdaten und einem fehlenden Ökosystem identifiziert, das die Kooperation zwischen Forschungseinrichtungen, Start-ups und anderen Unternehmen fördern soll. Die Führung von in Deutschland ansässigen forschenden Pharmaunternehmen registriert ein massives Innovations-Gap.
Deutschland: Tempolimit bei klinischen Studien
Warum Geschwindigkeit wichtig ist? Gerade auch innerhalb Europas ist Deutschland bei klinischen Studien viel Konkurrenz erwachsen. Dr. Michael May, medizinischer Direktor beim forschenden Unternehmen Bristol Myers Squibb, wagt deshalb einen „Blick über die Grenzen“. Gerade Länder wie Großbritannien, Frankreich, Spanien und Dänemark hätten in den vergangenen Jahren durch „hervorragende Maßnahmen“ ein Umfeld geschaffen, in dem die Zahl der klinischen Studien massiv angestiegen ist. „Was besonders beeindruckend ist: Spanien hat in den vergangenen 10 Jahren die Zahl der klinischen Studien um mehr als 40 Prozent steigern können.“ Dort ist es gelungen, alle Akteur:innen an einen Tisch zu setzen, um Hürden konsequent aus dem Weg zu räumen. Offenbar – und das gilt auch für die anderen genannten Nationen – verfolgt Spanien eine ganzheitliche Life Science-Strategie, deren Ziel es ist, eine zukunftsträchtige Schlüsselindustrie, wie es forschende Pharmaunternehmen darstellen, massiv zu fördern.
Den Pharma-Innovationsstandort Deutschland wieder stark machen – das liegt im Interesse aller, sagt Marc P. Philipp, Partner und Geschäftsführer bei Kearney. „Fachkräfte in Kliniken und Arztpraxen machen sich durch klinische Forschung schon heute mit der Medizin von morgen vertraut. Patient:innen erhalten durch sie zusätzliche Chancen auf wirksame Behandlung und beste Betreuung. Und Unternehmen können neue Medikamente schneller zur Zulassung bringen.“ Dass das kein Hexenwerk ist, zeigen europäische Nachbarn. Marc Philipp befürchtet eine „fatale Abwärtsspirale“, wenn „Deutschland bei der Studienvergabe künftig gar nicht mehr berücksichtigt wird, da internationale Firmen vor allem dort Studien platzieren, wo Produkte auch eingeführt werden.“ Dann wird das Innovationsproblem von heute zum Versorgungsproblem von morgen.
Vertragsverhandlungen: In Deutschlang bis zu 300 Tage
Die Studie kritisiert nicht nur, sondern hat 7 Handlungsempfehlungen mit 22 Maßnahmen entwickelt, mit denen der Anschluss gelingen soll – die ersten Empfehlungen zielen direkt auf das Thema Tempo: Dazu sollte massiv Bürokratie abgebaut und die Vertragsgestaltung zwischen den Pharmaunternehmen und den klinischen Zentren vereinfacht werden. In Deutschland können Vertragsverhandlungen schon mal 300 Tage dauern – in Frankreich sind es hingegen zwischen 24 und 76 Tage. Das bedeutet: Während in Deutschland noch geredet wird, werden in Frankeich bereits Patient:innen in Studien eingeschlossen. Nicht weiter schlimm? Für einen Menschen mit fortgeschrittenem Krebs sind 224 Tage eine Zeit, die er nicht hat. Bürokratie schafft eben nicht nur Prozess-Sicherheit – in diesem Fall kann sie fatale Folgen haben.
Was im Ländervergleich auffällt: Heißt es nun „Choose France“ oder „Life Science Vision“ wie in Großbritannien – die erfolgreichen Länder haben eine Gesamtstrategie entwickelt. Sie wollen die Life Science-Industrie massiv fördern, weil sie den Wirtschaftsstandort attraktiv macht, für gute Arbeitsplätze sorgt, Innovationen auch in anderen Branchen (z.B. Anlagenbau) treibt und letztlich eine mehr als plausible Strategie ist, um in alternden Gesellschaften für ein Mehr an Gesundheit zu sorgen. Noch einmal Marc Philipp von Kearney: „Die Themen, die Deutschland bremsen, sind seit Jahren bekannt. Die Herausforderung ist nicht, kleinteilig Maßnahme für Maßnahme umzusetzen. Die Herausforderung ist es, jetzt eine Gesamtstrategie zu entwickeln.“ Kurz: Es braucht eine konzertierte Aktion. Deshalb fordern die Studienautor:innen einen Runden Tisch unter der Leitung von Bundesgesundheitsministerium und Bundeskanzleramt. Dort sollte alles vertreten sein, was in der klinischen Forschung eine Rolle spielt: Behörden wie das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), das Bundesforschungsministerium, Industrieverbände und Vertreter:innen der klinischen Zentren, Ethikkommissionen. Der Tisch soll eine übergreifende Strategie entwickeln, einen Fahrplan festzurren und die gesetzten Ziele im Sinne einer Erfolgskontrolle engmaschig überprüfen.
Deutschland: Forschungsstandort mit Patina
Noch ist die Zeit da, die entstandenen Lücken schnell zu füllen. Noch ist Deutschland ein guter Forschungsstandort. Aber der hat massiv Patina angesetzt. „Wir haben kein Erkenntnisproblem. Wir haben ein Umsetzungsproblem.“ Dieser Satz ist im Gesundheitswesen zum Dauerbrenner geworden. Doch wenn die Erkenntnis fehlt, dass nun umgesetzt werden muss, dreht sich das Land im Kreis. Dabei ist Innovationsvergessenheit das letzte, was sich Deutschland leisten kann.
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