Die Menschen in Deutschland verlieren die Zuversicht: 2017 haben über 80 Prozent der Bürger:innen die wirtschaftliche Lage positiv bewertet – heute sind es weniger als 30 Prozent. Das geht aus einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey hervor. Das verwundert nicht – in einer Zeit, in der eine Krise die nächste jagt, zahlreiche Herausforderungen vor der Tür stehen.
„Die immer älter werdende Gesellschaft, die Digitalisierung, die Transformation zur Klimaneutralität und eine Neuausrichtung der globalen Arbeitsteilung machen ein industriepolitisches Jahrhundertprojekt notwendig“, sagte Han Steutel, Präsident des Verbands der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa), auf der Veranstaltung im Berliner Futurium. Das gilt gerade angesichts Deutschlands Rohstoffarmut. „Der einzige Ausweg in einer solchen Situation ist es, auf Innovationen, Forschung und Entwicklung und auf das Wissen zu setzen. Wir müssen Veränderungen zulassen und fördern. Dies ist unsere wichtigste Ressource.“
Pharma: Schlüsselindustrie und Innovationstreiber
Laut Steutel kann die forschende Pharmaindustrie eine „Schlüsselrolle“ im anstehenden Wandel einnehmen. Mit dieser Einschätzung ist er nicht allein. Unter den Civey-Beauftragten wird die Pharma- und Gesundheitsindustrie als besonders forschungsintensiv und innovativ wahrgenommen.
Und auch Habeck bezeichnete diese Industrie als „wahren Innovationstreiber“. „Es ist die Gesundheit, die gesellschaftlichen Wohlstand mitdefiniert. Und es ist die Gesundheitswirtschaft und die medizinische Leistungsfähigkeit der Unternehmen, die dieses Land […] reich gemacht hat“, führte er aus. „Ohne eine funktionierende Gesundheitswirtschaft, ohne eine Versorgung mit Medikamenten […] wären wir nicht das Land, das wir sind“. Jens Spahn, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, hob hervor, dass Pharma „wenig energieintensiv“, aber „wertschöpfungstief“ sei und gute bezahlte Arbeitsplätze biete. „Das ist die Form von Branche, die wir brauchen.“
Deutschland ein Erfinderland?
Doch damit die forschende Pharmaindustrie ihr volles Potenzial ausschöpfen kann, braucht sie innovationsoffene Rahmenbedingungen. In jüngster Zeit haben sich diese aufgrund zu kurz gedachter politischer Sparmaßnahmen verschlechtert – zudem sind viele Baustellen wie eine überbordende Bürokratie noch immer nicht gelöst. Das hat Folgen. In Bezug auf die Zahl klinischer Studien pharmazeutischer Unternehmen war Deutschland einst nach den USA weltweit auf Platz 2 – inzwischen reicht es nur noch für Platz 6 (s. Pharma Fakten). „Wir haben pro 1 Millionen Einwohner 38 Studien in Deutschland“, erläuterte Dr. Michael May, Vizepräsident und medizinischer Direktor bei Bristol Myers Squibb in Deutschland. Skandinavische Länder oder die Schweiz bewegen sich im Gegensatz dazu im dreistelligen Bereich, so der Experte.
Deutschland (noch) ein Erfinderland? Wie aus den Civey-Daten hervorgeht, verneint das die Mehrheit der Geschäftsführenden und Selbstständigen (57 %) sowie der Gesamtbevölkerung (51 %). Ein Großteil der Unternehmer:innen (91 %) ist überzeugt, dass Deutschland zu wenig für die Sicherung der wirtschaftlichen Zukunft tut.
Was muss sich ändern? Laut Spahn braucht es in der Bundesrepublik zunächst mehr „Lust“ auf neue Ideen und Fortschritte. „Wer hätte 1978 lieber Krebs gehabt als heute?“ Er betont, „dass Fortschritt unser Leben besser macht.“ Auf Basis dieser Einsicht könnten Missionen definiert, Ziele gesetzt werden – zum Beispiel, um Krebs zu besiegen oder die Alzheimer-Erkrankung „vernünftig behandelbar“ zu machen.
Deutschland: Schneller, digitaler, produktiver?
Außerdem brauche es Strategien, die die Produktivität erhöhen, um angesichts des demografischen Wandels mit weniger Arbeitskräften mehr Wohlstand schaffen zu können. In Deutschland gebe es eine Rekordbeschäftigung, so Spahn, aber das Bruttoinlandsprodukt sei nicht entsprechend gestiegen. Digitalisierung und Künstliche Intelligenz können womöglich Lösungen liefern.
Effizienzgewinne sind speziell auch in der pharmazeutischen Forschung und Entwicklung zu heben. Dr. May, Bristol Myers Squibb, sieht „Geschwindigkeit“ als entscheidenden Faktor. „Überregulierung“ und „zu starke Bürokratisierung“ wirken bei der Genehmigung und Initiierung von Arzneimittel-Studien allerdings hemmend. „Wir haben 52 verschiedene Ethikkommissionen in Deutschland, 19 Landesbehörden: Das ist eine zu fragmentierte Struktur.“ Einheitliche Standards und Regeln fehlen, um Prozesse zu vereinfachen, unnötige Doppelarbeit zu verhindern. Das gilt auch beim Thema Datenschutz – von Bundesland zu Bundesland, von Studienzentrum zu Studienzentrum wird er unterschiedlich ausgelegt, gibt es andere Anforderungen.
Und in noch einem Bereich könnte Harmonisierung viel bewegen: im Vertragswesen. „Während wir in Deutschland im Schnitt zwischen 130 und 300 Tage brauchen, um einen Vertrag bei industriegesponserten Studien zwischen Industrie und akademischen Zentren zustande zu bringen, geht das in Frankreich in 20 bis 40 Tagen – wir brauchen das 3- bis 13-fache länger.“ Abhilfe könnten einheitliche Musterverträge schaffen, wie es sie in Spanien gibt. Überhaupt macht Spanien vieles richtig: Dort wurden „zentrale Datenstrukturen“ aufgebaut, „die es fördern, klinische Studien umzusetzen und Patienten einzubinden“, so May. Das Volumen an Studien konnte so um 10 Prozent erhöht werden. Das zeigt: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Die Australier:innen haben „Websites für Patienten und Studienzentren“ entwickelt – auch da kann sich Deutschland etwas abgucken; die Aufklärung und die Auffindbarkeit von klinischen Studien könnte besser sein.
Pharmastandort Deutschland auf Kurs bringen
Was passiert, wenn in der Bundesrepublik alles so bleibt wie es ist? „Hochrechnungen ergeben, dass wir dann nochmal 30 bis 50 Prozent an Studien verlieren würden und bis zu 100.000 Patienten weniger in Studien reinbringen können“, sagt Dr. May. Damit verpassen Wissenschaftler:innen und Ärzt:innen die Möglichkeit, die Medizin von Morgen mitgestalten zu können – Erkrankten entgeht die Chance auf neuartige, in der Erprobung befindliche Behandlungsmöglichkeiten. Es brauche einen „Masterplan“, der bestehende Probleme in ihrer Gesamtheit angeht.
Ein Maßnahmenpaket ist nicht nur für klinische Studien notwendig. Immer wieder ging es auf dem „Tag der innovativen Gesundheitswirtschaft“ etwa darum, dass Deutschland in vielen Bereichen souveräner und weniger abhängig von Ländern wie China werden muss. „Wir brauchen innovative Gesundheitswirtschaft auch als Wirtschaftssicherheitsfaktor in Europa und Deutschland“, betonte Habeck. Zudem sind Sammlung, Verknüpf-, Nutz- und Verfügbarkeit von Daten für die Forschung mehr als nur verbesserungswürdig. Luft nach oben gibt es, wenn es um die Translation von Wissenschaft in Wirtschaft – die Überführung von Ergebnissen aus der Grundlagenforschung in die Anwendung – geht. Mehr Investitionskapital ist gefragt.
„Begreifen Sie mich als Ihren Gesundheitswirtschaftsminister.“
Es gibt viel zu tun. Der Bundeswirtschaftsminister und der vfa-Präsident werden sich bei einem „Runden Tisch“ wiedertreffen. Habeck gab zu, den Beginn des Dialogs „verstolpert“ zu haben. Das Gesetzgebungsverfahren zum GKV-Finanzstabilisierungsgesetz sei damals bereits zu weit fortgeschritten gewesen, um noch etwas ändern zu können. Die „Unsystematik des Eingriffs“ sieht er kritisch. Steutel unterstrich: „Die im vergangenen Jahr beschlossenen radikalen Einschnitte bei der Vergütung innovativer Medikamente in Deutschland sind Gift für das Wachstum des Innovations- und Produktionsstandortes Deutschland. Wir entziehen einer Schlüsselindustrie die Grundlagen für ihren künftigen Erfolg und schaden dabei dem Wirtschaftsstandort Deutschland massiv“.
Der Pharmaverbandschef forderte die Politik auf, diese Zusammenhänge „endlich“ zusammenzudenken. Gesundheit und Wirtschaft können nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Habeck scheint das verstanden zu haben: Als Wirtschaftsminister habe er Interesse an einer florierenden Gesundheitswirtschaft. Er hofft, dass wieder Vertrauen wächst, „dass ich es ernst meine, in Deutschland einen attraktiven Standort aufzubauen.“ Und sagte: „Begreifen Sie mich als Ihren Gesundheitswirtschaftsminister.“
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