Sie bezeichnen die Gesundheits- und Pflegewirtschaft als neue Leitökonomie. Was verstehen Sie darunter?
Klaus Holetschek: Gesundheit und Pflege sind nicht mehr nur ein reiner Kosten-, sondern ein bedeutsamer Beschäftigungs- und Wirtschaftsfaktor geworden. Das ist auch gut so. Unsere Gesundheit ist schließlich unser höchstes Gut. Umso wichtiger ist also, dass wir in unsere Gesundheit auch investieren.
Die Gesundheits- und Pflegewirtschaft ist Wachstums- und Beschäftigungstreiber für den Wirtschaftsstandort Bayern. Rund jeder zehnte Euro der bayerischen Wirtschaftskraft entsteht in dieser Branche. Gleichzeitig sichert sie rund jeden sechsten Arbeitsplatz im Freistaat. 2019, also noch vor Corona, generierte die bayerische Gesundheits- und Pflegewirtschaft schon rund 60 Milliarden Euro Bruttowertschöpfung und beschäftigte rund 1,2 Millionen Erwerbstätige. Damit trug sie 10,5 Prozent zur gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung und 15,3 Prozent zum bayerischen Arbeitsmarkt bei. Allein von 2010 bis 2019 ist die Bruttowertschöpfung um absolut 18,8 Milliarden Euro und die Beschäftigung um rund 197.000 Erwerbstätige gewachsen. Die Gesundheits- und Pflegewirtschaft ist damit eine der stärksten und zukunftsträchtigsten Branchen im Freistaat. Sie hat sich in den letzten zehn Jahren zum krisenresistenten Wachstumsmotor für den Wirtschaftsstandort Bayern entwickelt. Und ihre Bedeutung wird aufgrund der demographischen Entwicklung und einem weiterhin zunehmenden Gesundheitsbewusstsein in der Zukunft noch weiter steigen.
Wie war das in den vergangenen Jahren der Corona-Pandemie?
Holetschek: Auch die Corona-Pandemie hat die Gesundheits- und Pflegewirtschaft besser überstanden als andere Bereiche der Volkswirtschaft. Im Jahr 2020 gab es zwar mal ein deutschlandweites Minus um 0,8 Prozent. Es wurde aber in den beiden Folgejahren mit 5,2 und 7,9 Prozent wieder mehr als nur kompensiert. Der Grund für den kurzzeitigen Einbruch waren unterbrochene Lieferketten und rückläufige Patientenzahlen in Arztpraxen und Krankenhäusern. Im Jahr 2022 legte die Bruttowertschöpfung im Vergleich zu 2019 allein in Bayern um 4,1 Milliarden Euro zu. Gemessen an den Zahlen der Corona-Jahre hat sich die Branche also deutlich erholt. Dabei wuchs vor allem die industrielle Gesundheitswirtschaft, also Pharma, MedTech und E-Health, sie legte deutschlandweit im Vergleich zum Vorjahr um fast 14,5 Prozent zu. Gesundheit und Pflege sind damit die neue Leitökonomie der 20er Jahre.
Ausgaben für Gesundheit werden in der politischen Debatte oft als reiner Kostenfaktor gesehen – siehe GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG). Müsste Gesundheit in Deutschland nicht anders organisiert werden – nämlich als integrierte Gesundheits-, Wirtschafts- und Wissenschaftspolitik?
Holetschek: Wir alle wissen, dass es mit den Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung nicht zum Besten steht. Vor diesem Hintergrund müssen natürlich auch die Kosten thematisiert werden. Allerdings wäre es fatal, an der falschen Stelle zu sparen. Damit das nicht passiert, muss die Bundesregierung unbedingt auch den Dialog mit der Pharmabranche suchen. Ansonsten wird sie essentielle Versorgungsstrukturen zerstören, wie wir es vor allem im Generikabereich erleben. Die Finanzierungsfrage stellt sich leider auch dann, wenn man Gesundheit in einen größeren politischen Kontext einordnet.
In Bayern leben wir mit dem Bayerischen Pharmagipfel eine ‚integrierte Politik’ geradezu vor. Wir haben in Bayern zudem seit 2009 eine eigene Organisationseinheit für die Gesundheitswirtschaft hier im Gesundheitsministerium und diese seit 2013 – mit der Gründung des bundesweit ersten Gesundheits- und Pflegeministeriums – um die Pflegewirtschaft zur Gesundheits- und Pflegewirtschaft erweitert. Mit den anderen Ressorts stehen wir in intensivem Austausch und stimmen uns miteinander ab. Klar ist: Wir wollen Bayern zur Leitregion beim Megatrend Gesundheit und Pflege entwickeln. Der Freistaat soll eine führende Rolle als Gesundheit- und Pflegeinnovations-Standort auch im internationalen Kontext einnehmen und so Vorbild für andere Länder werden.
Was tun Sie konkret, um den Pharmastandort Bayern zu stärken und auszubauen?
Holetschek: Wir entwickeln mit dem Bayerischen Pharmagipfel bereits seit Jahren Konzepte, um den Pharmastandort Bayern etwa für die Arzneimittelherstellung attraktiv zu halten, neue Unternehmen anzusiedeln und auch die Bedingungen für Forschung an Arzneimitteln attraktiv zu gestalten. Die dabei erarbeiteten Vorschläge für Maßnahmen haben wir immer wieder an den zuständigen Bund und die EU gerichtet und werden dies auch weiter tun. So fordere ich vom Bund beispielsweise Verbesserungen beim GKV-Finanzstabilisierungsgesetz und beim Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz. Auch bei der Reform des EU-Arzneimittelrechts bringt sich Bayern intensiv ein.
Wir haben zudem im November 2022 die bayerische Task-Force Arzneimittelversorgung gegründet und stehen dabei im regelmäßigen Austausch mit allen Beteiligten, wie dem Bayerischen Apothekerverband, der Bayerischen Landesapothekerkammer, der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns, den Ärzteverbänden, Verbänden und Firmen der pharmazeutischen Industrie und pharmazeutischen Großhändler und gesetzlichen Krankenkassen. Gemeinsam haben wir nicht nur Handlungsoptionen und Vorschläge für kurz-, mittel- und langfristige Maßnahmen erarbeitet, sondern auch die Versorgung über die Weihnachtsfeiertage sichergestellt.
Ich kann Ihnen versichern: Bayern wird sich weiter hartnäckig einbringen. Klar ist aber: Der Bund darf nicht immer nur abwarten. Die allgemeinen Rahmenbedingungen müssen der Bund und die EU proaktiv schaffen.
Welche Forderungen haben Sie an die Bundesregierung?
Holetschek: Die Bundesregierung tut insgesamt viel zu wenig, um die Arzneimittelversorgung in Deutschland und damit auch im Freistaat sicherzustellen. Wir haben schon im Juni 2021 ein Gutachten vorgelegt, das klar Handlungsfelder benennt. Wir müssen unsere Abhängigkeit von Ländern mit Produktionsmonopolen beenden. Die Pandemie und auch der Krieg in der Ukraine haben uns gezeigt, dass wir uns Abhängigkeiten nicht leisten können. So ein Szenario darf sich bei lebenswichtigen Arzneimitteln nicht wiederholen. Um die Versorgung zu gewährleisten, brauchen wir Forschung und Entwicklung genauso wie Produktion in Deutschland und Europa. Dazu müssen insbesondere die Rahmenbedingungen verbessert werden.
Inwiefern?
Holetschek: Ich bin überzeugt, dass man hier insbesondere durch eine Reform des Rabattvertragssystems, Regelungen zum Inflationsausgleich und eine Überprüfung der Retaxationsregelungen für von Liefer- und Versorgungsengpässen betroffene Arzneimittel gezielt gegensteuern kann. Aber nur durch Vorhaltemaßnahmen können wir die Versorgung mit wichtigen Arzneimitteln auch bei Engpässen sicherstellen. Hierfür benötigen wir aber auch wirksame Frühwarnsysteme, um Liefer- und Versorgungsengpässe frühzeitig erkennen zu können. Wir brauchen Reformen, aber auch eine Förderung der Entwicklung von innovativen Arzneimitteln, also ein Gesamtkonzept zur Sicherung der Arzneimittelversorgung. Nicht zuletzt muss der Bund außerdem wieder in einen Dialog mit der Pharma- und Biotech-Industrie und den anderen Akteuren wie zum Beispiel Apothekern treten, wie das auch vom Freistaat Bayern fortlaufend gefordert und mit dem Bayerischen Pharmagipfel aktiv vorgelebt wird.
Unsere Eckpfeiler sind klar: Standort stärken, Anreize schaffen, damit Arzneimittel und Wirkstoffe wieder mehr in Deutschland produziert werden, und Anreize für pharmazeutische Unternehmen schaffen in Deutschland zu forschen. Nur so können wir die Arzneimittelversorgung zukunftssicher machen. Daher geht uns der aktuelle Kabinettsentwurf der Bundesregierung zum Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz auch nicht weit genug. Vor allem bleibt zu kritisieren, dass auch weiterhin keine hinreichenden Regelungen zum Inflationsausgleich geschaffen und die offensichtlichen Fehlentwicklungen des GKV-FinStG nicht korrigiert werden.
Wie wichtig ist ein starker Pharma-Standort für Deutschland?
Holetschek: Die Corona-Pandemie hat eindrücklich gezeigt, wie wichtig eine stabile Versorgung mit qualitativ hochwertigen und innovativen Arzneimitteln ist. Dabei sind Forschung und Entwicklung von Innovationen genauso notwendig wie die Produktion, um eine flächendeckende Versorgung zu gewährleisten. Genau dafür setzen wir uns intensiv ein: Der schnelle Zugang von Patientinnen und Patienten sowohl zu innovativen Therapien als auch zu bewährten Arzneimitteln muss auch in Zukunft gewährleistet bleiben. Denn eine verlässliche Versorgung mit Medikamenten ist mehr als nur systemrelevant. Gesundheit ist schließlich unser höchstes Gut.
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