Es ist ein Missverständnis. Wir wollen keine „schwache“ Pharmaindustrie. Um sich das klar zu machen, bedarf es nur eines kleinen Gedankenspiels: Stellen Sie sich vor, Ihr Kind erkrankt an Leukämie. Oder eine Freundin. Oder der Vater? Dann beten sie, dass sich diese Industrie in den vergangenen Jahrzehnten sprichwörtlich den Hintern aufgerissen hat, um Medikamente dagegen zu entwickeln. Denn so lange kann es dauern, bis man eine überzeugende Lösung findet, um solche Krankheiten in die Schranken zu weisen (was bei der Kinder-Leukämie in beeindruckender Weise gelungen ist).
Menschen mit schweren chronischen Erkrankungen müssen davon bezeichnenderweise nur selten überzeugt werden: Wer HIV- oder Hepatitis-C-infiziert ist, weiß, was er oder sie Medikamenten verdankt. Viele Millionen Diabetes- oder Bluthochdruck-Betroffene haben heute auch wegen der Pharmaindustrie eine normale Lebenserwartung. Gerade letztere übrigens in der Regel zu Cent-Beträgen. Sie profitieren von der Forschung, die vor vielen Jahrzehnten stattfand und deren Ergebnis nun als Generikum zur Verfügung steht.
Natürlich ist das alles nicht allein das Verdienst der Forschenden; schließlich findet moderne Forschung in Netzwerken statt. Aber in der Übersetzung von wissenschaftlichen Durchbrüchen in Arzneimittel, die für die Patienten und Patientinnen einen echten Unterschied machen, ist diese Industrie schlicht „alternativlos“. Wer sollte es sonst machen?
Pandemie 2020: Plötzlich geht vieles ganz schnell
Für die Pandemie wurde vieles eingerissen, was bisher nicht möglich erschien: Konkurrierende Firmen arbeiten zusammen, schmeißen ihre Expertise und ihre Wirkstoffe zusammen und suchen gemeinsam nach Lösungen. Unternehmen fahren Produktionskapazitäten hoch, obwohl noch nicht einmal eine Zulassung beantragt worden ist. Oder vergeben Lizenzen an Generikaunternehmen, damit diese in großem Stil kostengünstige Arzneimittel herstellen können. Sicher ist nicht alles perfekt. Aber wo ist denn alles perfekt?
Unter dem Strich ist das Ergebnis beeindruckend – einen Überblick hat der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) zusammengetragen. Dabei werden nicht nur bereits vorhandene Medikamente auf ihre Wirksamkeit geprüft (das so genannten Repurposing; also das Umwidmen bekannter Substanzen; Pharma Fakten berichtete), sondern auch ganz neue Therapien erforscht. Bei Impfstoffen ist ebenfalls alles auf Rekord gesetzt. Eine Liste der WHO zeigt 52 Impfstoffkandidaten in der klinischen Prüfung und weitere 162 in der Präklinik (Stand: 8.12.2020). Sucht man auf der Plattform clinicaltrials.gov nach klinischen Studien zu COVID-19 bzw. SARS-CoV-2, bekommt man über 4.000 Studien gelistet (zuletzt besucht: 14.12.2020).
Die allerwenigsten Firmen werden es schaffen, damit Geld zu verdienen. Aber solange eine überzeugende Lösung gegen das SARS-CoV-2-Virus nicht gefunden ist, wird die Suche weitergehen. Es ist ein Glück, dass das so ist.
Die Pharmaindustrie und das liebe Geld
Wer hierzulande über Pharma spricht, der denkt fast immer den Begriff „Profit“ mit. Es ist eine Analogie, die im gesundheitspolitischen Raum gerne genutzt wird, um politischen (Preis-)Druck auszuüben. Gerne wird dann ein x-beliebiger Wirkstoff aufgezählt und ein Preisschild kommuniziert, aber mit keinem Wort erklärt, was dieses Arzneimittel kann und welchen Nutzen es für die Betroffenen oder die Gesellschaft hat. Sechsstellige Summen für eine Behandlung sind ein Aufreger. Viel aufregender ist, wenn damit eine seltene genetische Krankheit behandelt werden kann, die bisher verhindert hat, dass die Betroffenen wesentlich älter als dreißig Jahre alt werden (Pharma Fakten berichtete). Oder wenn ein Blutkrebs plötzlich erfolgreich behandelbar ist bei Patientinnen und Patienten, denen die Statistik bisher noch rund sechs Monate Lebenszeit gegeben hat. Diesen Teil hinter dem Preisschild hört man in der Regel nicht (Pharma Fakten berichtete).
Das Geschäftsmodell der forschenden Pharmaindustrie
Das Geschäftsmodell der forschenden Pharmaindustrie versteht niemand, so hört man oft. Es ist aber eigentlich ganz einfach zu erklären: Forschende Pharma- und Biotechnologieunternehmen entwickeln Arzneimittel, damit sie a) Krankheiten besser behandeln oder – Stichwort Impfstoffe – besser verhindern können, um damit b) Geld zu verdienen. Denn wenn sie kein Geld verdienen, können sie weder die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen bezahlen noch die Investitionen tätigen, die dafür nötig sind. Sprich: Sie sind ganz normale Unternehmen – nur eben mit besonders sensiblen Produkten. Man könnte es auf die Formel bringen: Spitzenforscherinnen und -forscher + unternehmerischer Mut + wirtschaftlicher Erfolg = neue Therapien + bessere Lebensqualität für Betroffene.
Oft hört man: Pharmaunternehmen verdienen Geld mit dem Leiden anderer Menschen. Das stimmt nicht. Pharmaunternehmen verdienen mit der Linderung von Leiden Geld. Das ist nichts anderes als das, was jede Ärztin, jeder Arzt tut. Oder das Pflegepersonal. Abgesehen davon, dass sich auch niemand darüber aufregt, dass eine Bäckerei mit dem Hunger anderer Menschen Geld verdient.
Wenn die Pharmaindustrie nicht erfolgreich ist, bleibt der medizinische Fortschritt auf der Strecke. Oder besser: Wenn die Pharmaindustrie wirtschaftlich nicht erfolgreich ist, bleibt der Fortschritt eine Schnecke. Denn wenn jemand für viele hundert Millionen Euro Alzheimer-Studien durchführt, obwohl das seit fast zwanzig Jahren nicht zu einer Medikamenten-Zulassung geführt hat, dann ist diese Person entweder verrückt – oder arbeitet eben bei einem Pharmaunternehmen, das sich zum Ziel gesetzt hat, diese wissenschaftliche Hürde auch noch zu nehmen. Aber diese Einstellung muss man sich auch leisten können.
Pharma: Keine Industrie ist forschungsintensiver
Die Forschenden leisten sich das: Es gibt auf der Welt keine Industrie, die einen so hohen Anteil ihrer Netto-Umsätze wieder in die Forschung investiert; im Durchschnitt sind es 15 Prozent. Unter den Mitgliedsfirmen des Pharma Fakten e.V. gibt es Unternehmen, bei denen liegt dieser Wert bei 70 Prozent.
„Böse Pharmaindustrie? Es ist an der Zeit, dankbar zu sein“, schrieb vor kurzem die Welt. Und die Frankfurter Allgemeine titelte: „Danke, Konzerne.“ Dahinter steht die Erkenntnis, dass wir in Europa auf tödliche Seuchen – und andere Gesundheitsherausforderungen – nur gut vorbereitet sein werden, wenn wir unsere medizinische Forschung und Entwicklung massiv ausbauen. Denn auch für die nächste Pandemie gilt: Es wird ein Wirkstoff und/oder ein Impfstoff aus den Laboren eines Pharmaunternehmens sein, der darüber entscheidet, wie wir sie meistern.
Eine „schwache“ Pharmaindustrie können wir uns gar nicht leisten.