23 Minuten dauerte die Pressekonferenz des Bundesgesundheitsministers, in der er Ende Juni die Eckdaten seines Entwurfes für das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz vorstellte. Das dachte zumindest jeder, der ihm lauschte. Später stellte sich raus: Professor Dr. Karl Lauterbach hatte sich in der Kunst des Weglassens bemüht. Ein Beispiel: Der Pharmaindustrie präsentierte er einen „Solidarbeitrag“ in Höhe von einer Milliarde Euro. Als dann der Referentenentwurf im Juli öffentlich wurde, kam heraus: Die Milliarde soll nicht nur 2023, sondern auch 2024 fließen. Das macht dann schon mal 2 Milliarden Euro.
Aber das ist noch nicht alles: Das Preismoratorium auf Arzneimittel wird bis 2026 um 4 Jahre verlängert. Es ist der Dauerbrenner unter den finanziellen Daumenschrauben. Die Pharmaunternehmen rechnen ihre Arzneimittel auf dem Preisniveau vom 1. August 2009 ab. Nein, kein Tippfehler: 2009. Lediglich ein Inflationsausgleich ist seit ein paar Jahren möglich. Änderungen bei der Erstattung innovativer Arzneimittel (im so genannten AMNOG-Verfahren) sollen für weitere Einsparungen sorgen. So ist ein 20-prozentiger Abschlag bei Kombinationstherapien geplant. Außerdem werden die ausgehandelten Erstattungspreise für Innovationen schon ab dem 7. Monat gelten, nachdem ein neues Arzneimittel in den Apotheken verfügbar ist (bisher 12 Monate). Alles in allem dürften in den kommenden Jahren mehr als 4 Milliarden Euro zusätzlich zusammenkommen. Zusätzlich zum Herstellerzwangsrabatt und zu den Rabattverträgen.
Da kommt die Frage auf, ob es aus gesundheits- und wirtschaftspolitischen Erwägungen sinnvoll ist, eine Industrie, die wie keine andere für Zukunft steht, mit Sondersteuern zu belegen und so vor den Kopf zu stoßen. Denn wie hoch und wie wichtig die Leistungsfähigkeit der forschenden Pharmabranche ist, hat in besonderem Maße die Pandemie gezeigt. Diagnose-Tools, Impfstoffe, Medikamente – all das stand in Rekordzeit zur Verfügung, hat weltweit Millionen von Menschenleben gerettet und der Wirtschaft (noch) Schlimmeres erspart. Dass wir uns trotz weiterhin hoher Infektionszahlen frei bewegen können, verdanken wir auch den Interventionsmöglichkeiten, die uns die Pharmaunternehmen zur Verfügung gestellt haben. Wenn regenerative Energien neuerdings „Freiheitsenergien“ sind (O-Ton Bundesfinanzminister), was sind dann pandemische Impfstoffe? Und antivirale Medikamente?
Nun ist es nicht gerade so, dass uns die medizinischen Herausforderungen in den kommenden Jahren ausgehen werden:
- Antimikrobielle Resistenzen gegen Arzneimittel (AMR) gelten längst als die „stille Pandemie“, die sich in den kommenden Jahren erheblich verschärfen wird. Ihr Einhalt zu gebieten, wird nur gelingen, wenn Forschung und Entwicklung ähnlich erfolgreich sind wie bei der Bekämpfung von SARS-CoV-2.
- Deutschland ist ein Land mit einer der ältesten Bevölkerung weltweit. Die Demografie sorgt für eine steigende Krankheitslast. Und lässt den nächsten Tsunami erahnen: die Alzheimer-Erkrankung. Nur wenn es gelingt, ein Arzneimittel zu entwickeln, wird Alzheimer seinen Schrecken verlieren. Die Geschichte wirksamer Alzheimer-Wirkstoffe ist die von milliardenschweren Verlusten. Die Unternehmen forschen trotzdem weiter.
- Die Zahl der Krebsfälle steigt an – auch altersbedingt. Gleichzeitig ist der Fortschritt in der Onkologie gewaltig. Das wird er nur bleiben, wenn weiterhin kräftig investiert wird.
- HIV, Hepatitis – nur zwei Beispiele, die dafür stehen, wie die in den vergangenen Jahren erreichten Fortschritte in der Eindämmung dieser Krankheiten durch die Pandemie auf der Kippe stehen. Das gilt auch für zahlreiche Tropenerkrankungen, deren Bekämpfung ebenfalls in unserem Interesse sein sollte; schließlich hat uns SARS-CoV-2 beigebracht, wie wenig sich Krankheitserreger um Grenzen kümmern. Das Rezept dagegen: Mehr Wissenschaft mehr Forschung, mehr Entwicklung, mehr Geld.
Die nächste Pandemie ist nur eine Frage des Wann, aber nicht des Ob. Nach den Erfahrungen der vergangenen 2 Jahre: Gibt es irgendjemanden da draußen, der sich nicht eine hochinnovative Pharmaindustrie wünscht?
Pharmaunternehmen: Ein Segen für Wirtschaft und Wissenschaft
Forschende Pharmaunternehmen sind für einen Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort ein Segen: Keine Industrie investiert mehr in Forschung und Entwicklung und damit in Zukunft. Kaum eine Industrie schafft so viele hochqualifizierte Arbeitsplätze, setzt so viele Innovationsimpulse auch in anderen Industriebranchen und ist gleichzeitig so krisenfest. Die pharmazeutische Industrie treibt mit ihren klinischen Studien medizinischen Fortschritt voran und sorgt dafür, dass Spitzenforschung in Deutschland gedeihen kann.
Klar kann man nun sagen: Die Zeiten sind schwer und alle müssen einen Beitrag leisten. Dabei fällt allerdings unter den Tisch, dass pharmazeutische Unternehmen mit erheblichen Milliardenbeiträgen seit Jahren genau das tun. Das BASYS-Institut hat ausgerechnet, dass sich Hersteller-Zwangsabschläge, Nutzenbewertungsverfahren mit anschließenden Preisverhandlungen, ein Preismoratorium in Dauerschleife und sonstige Rabatte in den Jahren zwischen 2010 und 2020 auf 72 Milliarden Euro summiert haben. Jetzt kommen noch einmal mehr als 4 Milliarden Euro drauf.
GKV-Ausgabenanteil von Pharma: Weniger als 10 Prozent
Auch ein Blick auf die Arzneimittelausgaben dürfte eigentlich niemanden aus der Bahn werfen – ihr Anteil an den GKV-Gesamtausgaben ist seit 5 Jahrzehnten stabil. Rechnet man aus diesem Ausgabenblock noch die Mehrwertsteuer und den Anteil der Apotheken und des Großhandels heraus, dürfte der Kostenanteil der pharmazeutischen Industrie unter 10 Prozent liegen.
Die Gesetzliche Krankenversicherung hat ein Problem – das ist richtig. Das liegt unter anderem an der sehr expansiven Ausgabenpolitik der vergangenen Jahre (und übrigens weniger an den Ausgaben zur Eindämmung der Pandemie; Pharma Fakten berichtete). Die Wirtschaft florierte, die Beitragseinnahmen sprudelten, wer mit Sorgen in die Zukunft blickte, galt als Spielverderber. Doch nun zeigt sich, dass das deutsche Gesundheitswesen dringend auf den Prüfstand muss – im jetzigen Zustand ist es schlicht nicht krisenfest. Die notwendigen Stellschrauben sind längst identifiziert, um dem System mehr Effizienz einzuhauchen. Aber offenbar scheuen sich die Gesundheitsminister seit Jahren, solche Reformen auch durchzusetzen.
Da ist der Griff in die Tasche von Pharma eben einfacher. Und es wiederholt sich eine urdeutsche Interpretation dessen, was Fortschritt ist – man denke nur an die deutsche Solar-, Windkraft- oder Halbleiterbranche. Deutschland fördert halt lieber Braunkohle als Spitzenforschung: Braunkohle for Future. Zukunftsorientierung sieht irgendwie anders aus.