2016 hat Boehringer Ingelheim die Angels-Initiative gestartet. Was ist das?
Thomas Fischer: Mit der Angels-Initiative verfolgen wir das Ziel, die Schlaganfallversorgung weltweit zu verbessern. Unser Fokus liegt auf der akuten Phase des Schlaganfalls. Wir wollen insbesondere ausreichend viele spezialisierte Einrichtungen aufbauen und in diesen und den bereits bestehenden Schlaganfalleinheiten die Abläufe hinsichtlich Qualität und Geschwindigkeit optimieren. Wir sagen kurz „More and Better“.
Wie kamen Sie auf die Idee?
Fischer: In der Zusammenarbeit mit den wissenschaftlichen Schlaganfall-Gesellschaften bekam ich einen guten Einblick in die Situation von Schlaganfalleinheiten („Stroke Units“) rund um die Welt. Selbst in Europa wird nur jeder dritte Patient mit akutem Schlaganfall in spezialisierten Kliniken behandelt. Dies hat zur Folge, dass alle halbe Stunde ein Patient verstirbt oder langfristig behindert ist, weil er in der falschen Klinik behandelt wurde. Und das in Europa. In vielen anderen Ländern, insbesondere mit niedrigem oder mittlerem Einkommen, ist die Situation noch dramatischer. Wir wollen jedem Patienten und jeder Patientin, egal wo diese leben, die gleichen Chancen verschaffen, das Leben nach dem Schlaganfall bestmöglich zu gestalten. Im Prinzip ist die Idee ganz einfach: Zu helfen, die bestehende Evidenz, festgehalten in den Richtlinien, in ausreichend vielen Krankenhäusern umzusetzen.
Wie kann ich mir das vorstellen: Wie stellen Sie den ersten Kontakt her? Wer führt eine erste Analyse durch, um herauszufinden, was gemacht werden muss?
Fischer: Unsere Herangehensweise erfolgt in zwei Ebenen. Auf nationaler Ebene bilden wir mit der oder den wissenschaftlichen Gesellschaften ein Leitungsgremium, um die Gesamtstrategie zu besprechen. Hier liegt der Schwerpunkt auf der Schaffung neuer Stroke Units, der Prozessverbesserung innerhalb der bestehenden Units oder der Vernetzung von Schlaganfalleinheiten der verschiedenen Behandlungslevels.
Auf der Krankenhausebene werden die Prozesse im ersten Schritt beobachtet, „best practice“ Erfahrungen ausgetauscht, Checklisten eingeführt beziehungsweise verbessert, Prozesse durch Simulationstrainings vor Ort analysiert, verändert und optimiert, Trainingsbedarfe ermittelt und Trainings durchgeführt und organisiert. Um die Nachhaltigkeit zu gewährleisten, ist die Einführung eines Qualitätsmonitorings unerlässlich, das wir in der Zusammenarbeit mit dem Qualitäts-Monitoring-Tool des sogenannten RES-Q Registers den Krankenhäusern zur Verfügung stellen. Zu Beginn der Initiative war es bisweilen etwas mühsam, die Gesellschaften und die Krankenhäuser zur Teilnahme zu gewinnen. Heute ist es oft so, dass wir mehr Anfragen erhalten, als wir kurzfristig leisten können.
Mir scheint, dass gerade nach einem Schlaganfall standardisierte Prozesse in der Behandlung sehr wichtig sind. Warum?
Fischer: Nur wenn Prozesse standardisiert sind, ist eine gleichbleibende Qualität gewährleistet. Eingeübte Abläufe sorgen – wie beim Sport – für Schnelligkeit und Effektivität, insbesondere wenn Teams – in unserem Fall Neurologen, Radiologen, Pflegepersonal, Notfallmediziner – Hand in Hand arbeiten müssen. Wir vergleichen dies oft mit einem Boxenstopp in der Formel 1: Vor 30 Jahren dauerte das einige Minuten. Heute wird das durch „Prenotification“, durch „Parallelprocessing“ und ständiges Training in fünf Sekunden erledigt.
„Time is brain“ heißt es in der Schlaganfalltherapie. Standards entwickeln und umzusetzen rettet also im Grunde Leben?
Fischer: Time is brain, absolut! Daher ist die Zeit auch der grundlegende Parameter in der hyperakuten Phase. Die Checklisten zum Beispiel sind so angelegt, dass schnellstmöglich die für die Therapieentscheidung wichtigen Kriterien geprüft und dokumentiert werden. Alles andere kann später evaluiert werden. Diese Standards in Simulationen vor Ort einzuüben, beseitigt sehr oft bürokratische Hürden, wie z.B. Aufnahmeprotokolle. Sind diese Hürden erstmal erkannt, können Lösungen entwickelt werden, sie zu vermeiden.
Beschreiben Sie mir bitte einen typischen Boehringer-Engel. Was haben die Engel für eine Ausbildung? Wie lange begleiten sie ein konkretes Projekt?
Fischer: Die meisten der Angels Consultants kamen direkt von der Universität, meist nach einer Promotion in Medizin, Pharmazie, Biologie oder Chemie. Neben guten analytischen Fähigkeiten spielen eine hohe soziale Kompetenz, emotionale Intelligenz und Begeisterungsfähigkeit eine sehr große Rolle. Obwohl die Aufgabe anspruchsvoll, emotional und zeitlich sehr fordernd ist, haben wir eine sehr geringe Fluktuation, da alle sehr motiviert sind das Leben der Schlaganfallpatienten zu verbessern. Im Schnitt dauert es etwa ein halbes Jahr, ein Krankenhaus „stroke-ready“ zu machen. Allerdings ist die Varianz sehr groß, das kann von zwei Monaten bis mehrere Jahre gehen.
Wie ist das Feedback aus den Kliniken?
Fischer: Das Feedback von den Kliniken ist ausgesprochen gut. Es ist sehr motivierend für die Schlaganfall-Teams, wenn sie z.B. nach einer Simulation die Zeit bis zur Therapie von 60 Minuten auf 20 Minuten senken konnten und die Therapieergebnisse sichtbar besser werden. Oder wenn das Team einer Stroke Unit den ESO Angels Award für gute und dokumentierte Behandlungsqualität erhält. Und ist es sogar der Diamond Award, werden die Teams bei der Europäischen Schlaganfall Konferenz unter dem Beifall von 4.000 Zuschauern auf die Bühne gerufen.
Haben Sie Zahlen, was mit dieser Initiative schon erreicht werden konnte?
Fischer: Wir haben bis dato mehr als 4.500 registrierte „Angels“-Krankenhäuser auf unserer Webseite mit 43.500 registrierten Usern. Grob gerechnet wurden in diesen Kliniken über die Zeit, in der die Initiative läuft, mehr als sechs Millionen Schlaganfallpatienten behandelt. Über 300.000 Patienten sind im Qualitäts-Monitoring-Tool RES-Q dokumentiert. Es gibt jetzt 1.300 mehr „stroke ready“ Krankenhäuser, die zuvor meist keine Schlaganfallpatienten behandelten, als zu Beginn unserer Aktivität.
Wo stehen Sie heute und was wollen Sie erreichen?
Fischer: Unser Ziel ist es bis im Jahr 2030 ein Netzwerk von 10.000 Kliniken aufzubauen. Parallel zu unserer bisherigen Arbeit haben wir insbesondere Konzepte and Aktivitäten entwickelt, die die Verbesserungen der Ambulanz-Services zum Ziel haben und die Entwicklung von regionalen Netzwerken von Stroke Units der Primär- und Sekundärversorgung. Ebenso wichtig ist das Training und Empowerment von „Stroke Nurses“. Eine weitere Initiative innerhalb von Angels ist die FASTheroes Kampagne, die kindgerechte Schulung von Kindergartenkindern anbietet und die ihre Großeltern über die Symptome von Schlaganfall nachhaltig informieren soll: Face – Arm – Speech – Time – rufe 112. FASTheroes ist inzwischen in 23 Ländern eingeführt.
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