Lungenkrebspatientin Kerstin kennt beide Welten heutiger Krebstherapien. Wegen Schmerzen im linken Brustkorb war sie in der Klinik untersucht worden. „Und plötzlich steht da ein Onkologe vor dir.“ Die Welt der Dreißigjährigen brach zusammen. Es folgten mehrere Zyklen Chemotherapie – die so genannte Standardtherapie. Später kam sie durch Zufall an einen anderen Krebsmediziner – er eröffnete ihr den Weg zur Präzisionsonkologie: „Der war der erste, der das Rätsel lösen wollte. Er wollte wissen, warum ich mit 30 Jahren so eine Krebserkrankung habe.“ Er operierte und untersuchte den Tumor auf seine molekularen Grundlagen. Er fand einen so genannten onkogenen Treiber – eine genetische Veränderung, die maßgeblich das Wachstum ihres Tumors bestimmte. Was er auch wusste: Es gibt dazu ein passendes Medikament (Pharma Fakten berichtete). Der Rest ist schnell erzählt: Im Tagesrhythmus verbesserte sich Kerstins Zustand. „Heute führe ich ein fast normales Leben.“
Was ist eigentlich Präzisionsonkologie? Das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) definiert es so: „Die Präzisionsonkologie oder personalisierte Onkologie verfolgt das Ziel, jedem Krebspatienten anhand einer umfassenden molekularen, zellulären und funktionellen Analyse seines Tumors eine individualisierte Behandlung anzubieten. Wir wissen heute, dass sich die biologischen Eigenschaften nicht nur von Krebserkrankung zu Krebserkrankung, sondern auch von Patient zu Patient erheblich unterscheiden.“ Soll heißen: Behandelt wird nicht der Lungenkrebs. Behandelt wird der Mensch mit seiner spezifischen, individuellen Ausprägung von Lungenkrebs.
Genetische Treiber von Krebs: Immer mehr Medikamente verfügbar
Für Dr. Franz Böhme, Leiter Medizin Onkologie/Hämatologie bei Bayer Vital, geht es darum, die Chancen, die sich aus den Erkenntnissen der Wissenschaft für eine bessere Krebstherapie ergeben, in konkreten Nutzen für die Betroffenen zu übersetzen.
Böhme sieht in der Präzisionsonkologie „massive Chancen, die darin fußen, dass wir nicht mehr den Tumor in einem Organ entdecken und daraufhin therapieren, sondern nach der genetischen Veränderung suchen.“ Doch das geht nur, wenn der Tumor auch genetisch untersucht wird. „Die Wissenschaft kann das. Aber in der Breite sind wir noch nicht da, wo wir sein sollten.“ Heißt: Krebskranken, für die es bereits spezifisch auf ihre genetische Veränderung hin wirkende Arzneimittel gibt, wird die Möglichkeit einer solchen hochwirksamen Therapie genommen: Kerstin lässt grüßen. Dabei kann bereits heute ein Drittel der Patient:innen, bei denen molekulardiagnostische Tests durchgeführt werden, mit einem entsprechenden Medikament behandelt werden.
Kein Tumor ist wie der andere – deshalb engagiert sich Bayer in einer Kampagne für die Tumordiagnostik (testedeinentumor.de). Böhme wünscht sich mehr Testungen in der Routineversorgung: „Wenn nicht getestet wird, kann auch nichts gefunden werden.“ Vom gezielten Behandeln ganz zu schweigen.
Präzisionsonkologie kann ein langes Leben mit Krebs ermöglichen
Das sieht auch Professorin Dr. Dr. Sonja Loges vom Universitätsklinikum Mannheim so. „Genauso wie wir Menschen einzigartig sind, sind auch die Tumore einzigartig.“ Sie macht darauf aufmerksam, dass bereits viele zielgerichtete Arzneimittel zur Verfügung stehen, die neben der Chemo- und Immuntherapie „eine ganz wichtige Säule in einem Therapiekonzept sein können.“ Ein Paradebeispiel dafür, was gehen kann, ist der nicht-kleinzellige Lungenkrebs. Der Grund, warum diese Erkrankung immer besser behandelbar ist, liegt darin, dass die Medizin heute in der Lage ist, viele der genetischen Treiber zu identifizieren, die ihn auslösen. „Und tatsächlich gibt es heute schon für mehr als 50 Prozent davon medikamentöse Therapien“, so Loges. Das lässt sich in so genannten „Überlebenskurven“ zeigen. Loges: „Diese modernen präzisionsonkologischen Therapien können ein langes Leben mit Krebs ermöglichen – trotz einer fortgeschrittenen Erkrankung.“
Aber die Expertin betont auch: Ohne Testung ist das alles wenig wert. Bei einem der unter Krebsmediziner:innen geläufigsten genetischen Treiber, dem EGF-Rezeptor, werden bisher rund 80 Prozent der Betroffenen getestet. „Das heißt, dass von hundert Lungenkrebspatientinnen und -patienten zwanzig nicht getestet werden.“ Und deshalb die Chance verpassen, mit einer zielgerichteten Therapie behandelt zu werden. „Das ist ein wenig traurig für ein hochentwickeltes Land wie Deutschland.“
Notwendig: Die Vernetzung von Spitzenzentren und Niedergelassenen
Prof. Loges warb auf der virtuellen Veranstaltung für die Vernetzung der onkologischen Zentren mit den niedergelassenen Praxen, wo die Mehrheit der Betroffenen behandelt wird. Sie will einen „Dialog auf Augenhöhe“, damit den Betroffenen die bestmögliche Therapie zukommen kann. Diese sektorübergreifende Zusammenarbeit sei Garant dafür, dass Wissenstransfer stattfinden kann, und schaffe Zugang zu sogenannten Tumorboards, in denen die Kompetenzen eines onkologischen Spitzenzentrums zusammengeführt werden. Unter Beteiligung von Mediziner:innen verschiedener Fachrichtungen wird anhand der individuellen Daten ein optimaler Therapievorschlag entwickelt. Diese Vernetzung bringt Spitzenmedizin in die Fläche. Die Kompetenzen werden theoretisch überall verfügbar.
Warum die Vernetzung so wichtig ist? Der Fortschritt ist rasant. „Vor einigen Jahren hatten wir beim Lungenkrebs noch null Prozent Testungsrate und wenig, was wir den Patienten anbieten konnten“, sagt Professor Dr. Christof von Kalle vom Berlin Institute of Health an der Berliner Charité. „Jetzt sind wir teilweise bei sechzig Prozent und bei bestimmten Entitäten bei über achtzig Prozent.“ Krebstherapie ist für den Onkologen ein „moving target“: „Die Entwicklungen sind so schnell, dass bestimmte Behandlungsstrategien für 2019 oder 2020 gestimmt haben, in 2021 schon nicht mehr ausreichen.“ Und der Fortschritt wird sich noch beschleunigen: In zehn Jahren, so sagt von Kalle voraus, „werden wir die gesamten Eiweiß-Substanzen untersuchen, werden wir uns Sequenzen aus einzelnen Zellen und dem gesamten Genom anschauen.“ Die Krebsbehandlung von morgen ist datenintensiv.
Patient:innen-Vertreterin Dr. Bettina Ryll betont: Für die Betroffenen steckt hinter diesen Entwicklungen die Hoffnung auf Heilung. Aber sie sieht ein Kommunikationsproblem: das rasant wachsende Wissen über Sprachbarrieren hinweg so zu organisieren, dass auch Betroffene in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen. Denn auch das zeigt das Beispiel von Krebspatientin Kerstin: Es hilft, wenn man Bescheid weiß. Ihr Appell: „Bleiben Sie hartnäckig. Geben Sie nicht auf. Haben Sie den Mut, die Ärzte darauf anzusprechen.“ Prof. Sonja Loges sekundiert: „Wenn Sie Patientin oder Patient sind, lassen Sie sich testen. Wenn das abgelehnt wird, gehen Sie woanders hin.“