Wie gut ist das deutsche Gesundheitssystem? Zu dieser Frage gab es bei einer Diskussionsrunde in Berlin höchst unterschiedliche Ansichten. Foto: ©iStock.com/Andrei Vasilev
Wie gut ist das deutsche Gesundheitssystem? Zu dieser Frage gab es bei einer Diskussionsrunde in Berlin höchst unterschiedliche Ansichten. Foto: ©iStock.com/Andrei Vasilev

Weshalb 200.000 Todesfälle pro Jahr vermeidbar wären

„200.000 vermeidbare Todesfälle pro Jahr sind zu viel.“ Das schreiben Ärzt:innen, Forschende, Pflegende, Patient:innen und weitere Akteure des Gesundheitssystems und der Zivilgesellschaft in einem dramatischen Appell. Darin führen sie zwölf Punkte auf, bei denen eine Reform des Gesundheitswesens ansetzen müsste. Wir haben über den Appell und die Mängel im deutschen Gesundheitssystem mit Prof. Konrad Reinhart von der Berliner Charité gesprochen, der als Vorsitzender der Sepsis-Stiftung zu den führenden Köpfen dieser Initiative zählt. Im ersten Teil des Interviews geht er auf vermeidbare Todesfälle ein und beantwortet die Frage, welche Reformen besonders dringend sind.
Prof. Konrad Reinhart, Charité. ©Leopoldina, Halle/Germany
Prof. Konrad Reinhart, Charité. ©Leopoldina, Halle/Germany

Herr Prof. Reinhart, in Ihrem Appell zur Reform des Gesundheitswesens schreiben Sie von 200.000 vermeidbaren Todesfällen, die es in Deutschland jedes Jahr gibt. Wie kommen Sie auf diese Zahl?

Prof. Konrad Reinhart: Es gibt alle zwei Jahre einen EU-Ländervergleich der Gesundheitssysteme. Er zeigt unter anderem auf, wie viele Todesfälle vermeidbar wären durch bessere Prävention und Behandlung. Auf Deutschland hochgerechnet geht dieser EU-Länderreport von mindestens 200.000 vermeidbaren Todesfällen aus. Ich persönlich halte das sogar für noch zu niedrig, denn es sind zum Beispiel nur ganz wenige Daten zur Sepsis enthalten. Früher hat man eine Sepsis meist als Blutvergiftung bezeichnet. Vermeiden ließen sich viele Todesfälle etwa durch Impfungen, denn eine Sepsis ist die lebensbedrohliche Komplikation einer Infektion, beispielsweise einer Lungenentzündung. Allein an der Sepsis sterben in Deutschland pro Jahr rund 75.000 Menschen.

Wie steht Deutschland im Vergleich zu anderen EU-Ländern da, was vermeidbare Todesfälle betrifft?

Reinhart: Wir liegen im Mittelfeld. An der Spitze liegt Deutschland dagegen bei der Zahl der Krankenhausbetten und den investierten finanziellen Mitteln. Wir haben also eigentlich genügend Ressourcen, zumal jeder Bundesbürger im Durchschnitt zehnmal im Jahr zum Arzt geht – in Australien sind es nur sieben Arztbesuche pro Jahr, in den USA nur vier. Das Problem bei uns liegt nicht in einem Ressourcenmangel, sondern in einem Strukturmangel.

Aber man hört doch häufig, Deutschland habe eines der besten Gesundheitssysteme der Welt.

Reinhart: Das ist ein Mythos, der aus meiner Sicht lebensgefährlich ist – denn er verhindert dringend notwendige Reformen. Erst recht, wenn diese Reformen bei oberflächlicher Betrachtung nach einer Verschlechterung aussehen. So müsste zum Beispiel die Zahl der Krankenhäuser reduziert werden. Wir brauchen mehr spezialisierte, personell und technisch hervorragend ausgestattete Zentren, aber weniger Krankenhäuser insgesamt. Bei den Ländern, die diesen mutigen Schritt bereits gegangen sind, hat sich gezeigt: Es senkt nicht nur Kosten, sondern verbessert vor allem die Überlebensraten. Dänemark hat zum Beispiel die Zahl der Krankenhäuser reduziert, in denen Herzinfarkt behandelt werden kann – von 53 auf vier. In der Folge hat sich die Sterblichkeit halbiert. Vor zehn Jahren starben dort nach einem Herzinfarkt noch acht Prozent der Menschen, heute sind es nur noch vier Prozent – in Deutschland liegen wir nach wie vor bei acht Prozent.

Aber wie ist das zu erklären? Wenn es weniger Krankenhäuser gibt, dauert es doch viel länger, bis jemand mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus ankommt.

Gesundheitssystem sollte sich nach dem Patientenwohl richten. 
Foto: ©iStock.com/Inside Creative House
Gesundheitssystem sollte sich nach dem Patientenwohl richten.
Foto: ©iStock.com/Inside Creative House

Reinhart: Das stimmt schon, aber eine kürzere Anfahrt nützt wenig, wenn dann kein Facharzt da ist, der kompetent behandeln kann. Oft werden ja bei einem Herzinfarkt sogar Krankenhäuser angefahren, die noch nicht mal eine Kardiologie haben. Andere Häuser sind vielleicht technisch gut ausgerüstet, können aber nicht rund um die Uhr das fachärztliche Personal bieten, das für teilweise hochkomplexe Eingriffe nötig wäre. Zeitkritische Erkrankungen wie Herzinfarkt, Schlaganfall oder Sepsis sollten in spezialisierten Zentren behandelt werden – das lohnt sich auch dann, wenn der Transport dorthin vielleicht etwas länger dauert.

Welche Reform des Gesundheitswesens ist besonders dringend und müsste zuerst angegangen werden?

Reinhart: Am besten wäre es, wenn alle zwölf Vorschläge aus unserem Appell sofort umgesetzt würden: Qualitätsmängel beseitigen, Gesundheitsberufe attraktiver machen, das Gesundheitssystem nach dem Patientenwohl ausrichten, verbindliche Maßnahmen zur Qualitätssicherung einführen, Digitalisierung ausbauen, Prävention stärken – das sind die wichtigsten Punkte.

Greifen wir doch mal einen heraus, die Qualitätssicherung.

Reinhart: Sie bleibt bislang weitgehend denen überlassen, die bestimmte Dienstleistungen anbieten. Mal angenommen, die Sterblichkeit bei Schlaganfällen ist in einer Klinik auffällig hoch. Dann gibt es einen so genannten strukturierten Dialog, den Landesärztekammer, Chefarzt und Klinikdirektor intern führen. Es bleiben also alle unter sich. In anderen Ländern werden dagegen solche Zahlen und Behandlungsergebnisse öffentlich gemacht. Diese Transparenz fehlt bei uns. Wir müssten eine externe Qualitätskontrolle einführen und alle Patienten sollten nachlesen können, wie hoch zum Beispiel die Sterblichkeit bei den Frühgeborenen ist oder nach größeren chirurgischen Eingriffen. Das variiert erheblich.

Den zweiten Teil des Interviews finden Sie hier.

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