„Als ich vor drei Jahrzehnten mein Medizinstudium abgeschlossen habe, bedeutete eine Krebsdiagnose in vielen Fällen ein Todesurteil. Die Therapiemöglichkeiten waren begrenzt: Neben einer nicht immer möglichen Operation standen die Strahlen- und die Chemotherapie.“ Man habe, so Dr. Carl Janssen, Leiter der Sparte Onkologie bei Pfizer Deutschland, den „Schrotflintenansatz“ zur Verfügung gehabt. „Heute können wir den Tumor zielgenau attackieren.“ Aus seiner Sicht ist das vor allem durch zwei Parameter getrieben: das immer bessere Verständnis für die komplexe Biologie von Krebs und die digitale Verarbeitung großer Datenmengen in Diagnostik und Entwicklung. „Derzeit wird die individualisierte Therapie auf Basis genetischer Informationen immer mehr Behandlungsstandard.“ Allerdings stelle das rasant wachsende Wissen für die Onkolog:innen eine zunehmende Herausforderung dar. Dieses erfolgreich zu managen sei letztlich nur durch KI und maschinelles Lernen möglich. Janssens Prognose: „In der Vernetzung und Implementierung digitaler Anwendungen liegen große Potenziale, die Versorgungsqualität bei Menschen mit Krebs zu verbessern.“ Soll heißen: Onkologie goes digital – oder lässt Chancen liegen.
Krebsforschung: Netzwerke und Kooperation statt Konkurrenzszenarien
Die Krebsforschung von heute ist innovationsoffen, so der Mediziner. Sie denke in Netzwerken und Kooperationen statt in Konkurrenzszenarien: „Wenn sie ihre Kraft in einem Wettlauf verschwendet, läuft sie ihren Möglichkeiten hinterher. Das kann niemand wollen.“
Knackt also KI den Krebs? Nun, heute noch nicht, „aber in der Zukunft ist das sehr wahrscheinlich“, so die Kinderonkologin Professor Dr. Angelika Eggert von der Berliner Charité: Schon heute setze man solche Instrumente in der Klinik ein. Etwa bei der molekularen Charakterisierung eines Tumors, um ihn genauer verstehen und bekämpfen zu können: „Das sind gewaltige Datenmengen, so dass wir für die Auswertung KI benötigen. Aber da sind wir noch nicht präzise genug, weil wir es im Moment noch nicht auf Einzelzellebene tun können – und darin liegt die Zukunft.“ Auch in der Diagnose werde KI bereits eingesetzt; etwa in der Radiologie, wo die auf Basis von Algorithmen ausgewerteten Bilder präzisere Befunde möglich machen: „KI ermüdet nicht nach acht Stunden, so wie die Kollegen das tun“, so Eggert. Sie sieht großes Potenzial auch in der Telemedizin und damit im Zugang von Patient:innen in der Peripherie zur Spitzenmedizin, wie sie in großen, spezialisierten Zentren praktiziert wird.
Ein Beispiel dafür, was die Auswertung von Gesundheitsdaten an Zusatznutzen stiften kann, hatte Dr. Hagen Krüger im Gepäck. Der medizinische Direktor bei Pfizer berichtete von einem Brustkrebsmedikament seines Unternehmens, das nun auch bei der sehr seltenen Form von Brustkrebs beim Mann eingesetzt werden kann. Möglich wurde dies auf Grundlage von Gesundheitsdaten aus den USA; dort fand sich die Erkenntnis, dass das Arzneimittel auch bei Männern wirkt. „Das hätte in einer klassischen klinischen Studie fünf oder zehn Jahre gedauert.“ Der Hintergrund: Nur rund fünf Prozent aller Patient:innen nehmen an klinischen Studien teil. Heißt: 95 Prozent der Erfahrungen, die die angewandte Medizin im Behandlungsalltag macht, werden in diesem Setting nicht erfasst. Gesundheitsdaten aus dem Versorgungsalltag können eine gewaltige Lücke schließen und „die klinische Entwicklung deutlich beschleunigen”, so Krüger. Aus einem Datensee wird greifbarer Nutzen: In diesem Fall eine Behandlungsoption für Männer, die an Brustkrebs leiden.
Voraussetzung für personalisierte Medizin: Geregelter Datenzugang
Die Vision einer individuellen, auf die einzelnen Betroffenen zugeschnittenen Therapie sei möglich, so Hagen Krüger. Voraussetzung dafür sei ein breiter und geregelter Zugang zu den Daten der Patient:innen aus der Versorgung. „Dann wird es gelingen, in Zukunft eine patientenindividuelle Therapie breiter einzusetzen.“
Doch am geregelten Datenzugang hapert es in Deutschland – da waren sich alle einig. Data Science-Experte Dr. Keno März vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) warnte allerdings davor, allein den Datenschutz dafür verantwortlich zu machen. So gäbe es ganz pragmatisch Probleme, an Daten heranzukommen, weil sie unstrukturiert abgelegt würden oder weil die Vernetzung auf Basis gemeinsamer Plattformen fehlt. „Der Bürger ist der letzte, der dagegen ist“, glaubt er.
Woran es auch fehlt: Geld. Professor Eggert sieht einen „halbherzigen Willen zu investieren.“ Nichts sei teurer als ein ineffizientes Gesundheitssystem und „trotzdem schielen wir nur auf die Investmentkosten und rechnen das nicht auf, was wir damit gewinnen können. Das ist einfach unglaublich dumm.“ Dabei habe die Pandemie gezeigt, was möglich ist. „Da haben wir investiert und siehe da: Wir haben in Deutschland eine sehr, sehr gute Impfung sehr, sehr schnell entwickelt. Warum gelingt uns das in anderen Bereichen nicht?“ Wenn man das Thema wirklich ernst nehme, brauche man eine Digitalisierungsinitiative im dreistelligen Milliardenbereich, glaubt Pfizer-Mediziner Krüger – und das nur, um den Rückstand aufzuholen. Und Jens Redmer von Google ergänzte: „Wir sind in der Infrastruktur hinten an. Deutschland ist nicht einmal Mittelfeld im Ausbau von Breitbandleitungen. Deutschland ist das teuerste Land weltweit bei mobiler Datennutzung. Das ist wirklich katastrophal.“
Europäisches Konsortium: Datenseen für eine bessere Versorgung
Klagen hilft nicht – oder nur bedingt. Hagen Krüger plädiert deshalb dafür „einfach loszugehen“. Ein solches „Losgehen“ steckt hinter Projekten wie Optima, einer europäischen öffentlich-privaten Partnerschaft, die von Universitäten, Forschungseinrichtungen und pharmazeutischen Unternehmen getragen wird. Optima will Entscheidungshilfe für Ärzt:innen sein, um aus dem dichter werdenden Angebot von Behandlungsoptionen und dem schnell wachsenden, sich ständig weiterdrehenden Wissen auf Basis von Versorgungsdaten eine möglichst optimale Behandlungsstrategie herauszulesen. „Wir wollen ein europäisches Datenhaus schaffen, um Ärzte bei der Entscheidung zu unterstützen.“ Es geht darum, aus großen Datensätzen Muster zu erkennen, aus denen sich neue Erkenntnisse ableiten lassen.
Ein Datenschutz, der sich an den Bedürfnissen von Patient:innen orientiert
Hinter Projekten wie Optima steckt vor allem eines: die Kooperation. Kinderonkologin Eggert plädiert dafür, Berührungsängste zwischen akademischer Forschung und pharmazeutischer Industrie abzubauen: „Das ist einfach nicht mehr zeitgemäß. Es muss gemeinsame Plattformen der Begegnung geben, wo man im Sinne des Patienten gemeinsame Dinge entwickeln kann.“
Voraussetzung dafür, dass die Schätze, die sich in Gesundheitsinformationen verbergen, auch genutzt werden können, ist ein anderer, ein pragmatischer Umgang mit dem Thema. Dafür müssten sich, so Pfizer-Mann Krüger, die Patient:innen-Daten „sektorenübergreifend an einer Stelle befinden. Wir brauchen in Deutschland einen einheitlichen onkologischen Datensatz. Und wir brauchen einen lösungsorientierten Datenschutz, der sich an den Bedürfnissen und den Potenzialen von Patienten und nicht nur an den Sorgen von Gesunden orientiert.“