Neun Jahre bleiben noch – für die erfolgreiche Umsetzung von Programmen für die Bekämpfung von HIV und HCV ist das denkbar wenig Zeit. Ein Grund zur Resignation sollte es trotzdem nicht sein. Schließlich liegen (fast) alle Instrumente bereit, um diese Infektionskrankheiten einzudämmen oder auszurotten. Für Menschen mit HCV stehen seit ein paar Jahren hocheffektive Therapien zur Verfügung, die in wenigen Wochen fast in allen Fällen zu einer Heilung führen – das Virus verschwindet. Bei HIV gelingt das noch nicht, aber moderne Therapien drücken es unter die Nachweisgrenze und verhindern, dass Infizierte andere anstecken können. Durch konsequente Prävention, Früherkennung und Therapie kann das HI-Virus eingedämmt werden.
HIV und HCV können theoretisch eliminiert werden
„Beide Infektionen könnten dadurch theoretisch in einem Maße bekämpft werden, dass sie langfristig vollständig eliminiert werden könnten“, schreibt das Team um Prof. Dr. Bertram Häussler vom IGES-Institut in einem Studienbericht unter dem Titel „Mehr vorbeugen, mehr behandeln“. Die Studie wurde vom forschenden Biotechunternehmen Gilead Sciences beauftragt. In ihrem Fokus steht die „BIS 2030“-Strategie, die die Bundesregierung im Jahr 2016 auf den Weg brachte: Sie hat – angelehnt an die Vereinten Nationen und die WHO – für Deutschland „die nachhaltige Eindämmung von HIV, Hepatitis B und C, Syphilis, Gonorrhö, Chlamydien, HPV und anderen sexuell übertragbaren Infektionen bzw. Infektionserregern“ als Ziel formuliert.
Zu der Strategie haben die Autor:innen der Studie eine klare Meinung: Quantifizierte Vorgaben zu Zielen, insbesondere zu dem Hauptziel der „Eindämmung“, fehlen; selbst die Ziele von UNAIDS (Vereinte Nationen) und WHO sind nicht ausdrücklich erwähnt. „Dem Programm fehlt eine verbindliche Umsetzungsstrategie, die nicht nur Art und Anzahl der durchzuführenden Maßnahmen benennt, sondern die erforderlichen Aktionen in einen konsistenten und zeitlichen Kontext bis 2030 stellt.“ Beklagt wird ein „Mangel an Verbindlichkeit“. Insgesamt fehlt BIS der Biss.
Die beiden Infektionskrankheiten in Zahlen:
- HIV: Das Robert-Koch-Institut (RKI) schätzt, dass rund 91.400 Menschen in Deutschland mit einer HIV-Infektion leben. Weil deren Lebenserwartung durch moderne Therapiemöglichkeiten kaum noch reduziert ist, die Zahl der Neuinfektionen eher rückläufig ist und die Zahl der Toten seit Jahren bei rund 400 im Jahr liegt, werden es nach Prognosen im Jahr 2030 rund 120.000 Menschen sein, wenn die Strategie der Eindämmung nicht greift.
- HCV: Trotz aller Aufklärungsmaßnahmen fällt die Zahl der Neuinfektionen nicht – abgesehen von den pandemiebedingten Rückgängen als Folge von Kontaktbeschränkungen. Das RKI schätzt die Zahl der betroffenen Menschen auf rund 300.000.
Es gibt in den kommenden neun Jahren also noch viel zu tun, wenn sich Deutschland wirklich ernsthaft an den Zielen der Weltgemeinschaft orientieren will. Das IGES-Team hat einen Fünf-Punkte-Plan entwickelt, der den erwähnten „Mangel an Verbindlichkeit“ beheben soll.
- Das niedrigschwellige HIV- und HCV-Screening erweitern: Es gilt, ein möglichst einfach erreichbares Testangebot auszuweiten, schon weil Menschen mit noch nicht diagnostizierter HIV- bzw. HCV-Infektion diese unwissentlich weitergeben können. „Je nach Zielgruppe sind dazu unterschiedliche Ansätze sinnvoll.“
- Die Prävention stärken: Die Vorbeugung ist „das wichtigste Mittel zur Eindämmung.“ Dazu muss mehr informiert und aufgeklärt werden, um Stigma einzudämmen und das Risikobewusstsein zu stärken.
- Den Drogengebrauch sicherer machen: Intravenöser Drogengebrauch erhöht das Risiko für die Ansteckung erheblich. Mit einem ganzen Bündel an Maßnahmen soll das Schutzverhalten der Betroffenen verbessert werden – unter anderem durch Informationskampagnen, Schulung von Suchthilfemitarbeitenden, Substitutionsangebote oder die Möglichkeit zum sauberen Drogenkonsum.
- Mikroelimination von HCV- und HIV-Infektionen in Gefängnissen: Im Justizvollzug gibt es Verbesserungsbedarf bei der Prävention, Diagnostik und Behandlung von HIV- und HCV-Infektionen.
- Datenlage verbessern: Es fehlen valide Daten zur Zahl der jährlich neu bzw. insgesamt infizierten Menschen.
Deutschland stochert sich durch den Datennebel
Krankheitsbekämpfung auf Basis von Schätzungen oder veralteten Zahlen ist – vornehm ausgedrückt – ein No-Go: Wie will man ein Ziel definieren, das man nicht genau beziffern kann, und wie will man Maßnahmen auf ihren Nutzen abklopfen, wenn man ihre Auswirkungen nicht messen kann? Deutschland stochert sich – das hat auch die Pandemie gezeigt – durch den Datennebel. Gerade bei HCV gilt: Die Dunkelziffer ist hoch. Sehr hoch.
Auf jährlicher Basis, so fordert es das IGES-Institut, müssen deshalb künftig zentrale Parameter gemessen und verglichen werden. Genaue Zahlen zur Inzidenz (Wie viele Menschen haben sich neu infiziert?) und Prävalenz (Wie viele Menschen leben mit den Erkrankungen?) gehören genauso dazu wie Daten zum Stand der HCV-Elimination (Bei wie vielen wurde das Virus eliminiert?) und der HIV-Kontrolle (Bei wie vielen Menschen wird die Krankheit erfolgreich kontrolliert und wurde eine Therapie neu begonnen?). Auch genaue Fakten zu den HIV- oder HCV-bedingten Todesfällen sind Voraussetzung dafür, dass die Programmziele eingehalten werden können. „Zur Ermittlung reichen die bisherigen Instrumente nicht aus“, so die Kritik. „Insbesondere die vorhandenen Daten zur Anzahl der Menschen mit HCV-Infektionen sind völlig unzureichend.“
„Insgesamt ist festzustellen, dass im Hinblick auf HIV die beiden behandlungsbezogenen Ziele schon heute erreicht und das testbezogene Ziel nahezu schon erreicht werden. Defizite bestehen noch im Hinblick auf die Senkung der Anzahl der Neuinfektionen“, heißt es im Studienbericht. Laut aktuellen Daten, die das RKI im Vorfeld des Welt-AIDS-Tags veröffentlicht hat, wissen nun 90 Prozent der HIV-Positiven von ihrer Infektion. „Der Anteil der Menschen mit diagnostizierter HIV-Infektion, die eine antiretrovirale Therapie erhalten“, beträgt inzwischen 97 Prozent. „Etwa 96 Prozent dieser Therapien verliefen erfolgreich“.
Schlechter sieht es bei HCV aus: Die Zielvorgaben für Prävention, Testung und Behandlung werden deutlich verfehlt: „Hier ist gegenwärtig nicht ersichtlich, dass die für 2030 gesetzten Ziele ohne außerordentliche Anstrengungen erreicht werden können“, resümiert das IGES-Team.
IGES-Institut: Mehr vorbeugen, mehr behandeln. Studie zur Umsetzung der „BIS 2030“-Strategie Analyse und Maßnahmenempfehlungen, 2021 – hier abrufbar.