Die Debatte über das Impfen ist omnipräsent, aber über ihre Hintergründe ist wenig bekannt. Bei komm.passion wollte man das ändern. Heraus kam ein Dossier: Es gibt Hinweise, wie man die Debatte dieses hochemotionalen Themas besser steuern könnte.
Professor Güttler, was haben Sie herausgefunden?
Prof. Alexander Güttler: Im Grunde tummeln sich auf Social Media drei Gruppen – das sind die Überzeugten, die Gegner und eine große Gruppe der Unentschlossen. So weit, so überraschungsarm. Unsere Analysen zeigen, dass wir die Art und Weise der Kommunikation ändern müssen, wenn wir Menschen zu diesem Thema wirklich erreichen wollen.
Eine gefühlt große Gruppe sind die Impfgegner:innen…
Güttler: Dabei ist es in Wirklichkeit nur eine kleine Minderheit. Sie ist kaum erreichbar für rationale Argumente – es geht um Glauben, nicht um Wissen. Man findet diese Menschen in ihren Blasen, in denen sie sich selbst bestätigen, in ihren Contra-Impfen-Bubbles.
Warum haben wir dann das Gefühl, dass das eine größere Gruppe ist?
Güttler: Weil sie gerne ausschwärmen und auch außerhalb ihrer Bubbles ihre Ideologien verbreiten – nicht um zu diskutieren, wohlgemerkt, sondern weil sie geradezu messianisch getrieben unterwegs sind, um andere auf ihre Seite zu ziehen. Aber das führt eben dazu, dass wir sie viel wichtiger nehmen, als sie im Meinungsbildungsprozess eigentlich sein sollten. Nochmal: Das ist, zahlenmäßig betrachtet, eine sehr kleine Gruppe. Aber das ist ja die Problematik am Internet: Dort gibt es keine Filter. Das heißt, dass der Satz „Die Erde ist eine Scheibe“ denselben kommunikativen Stellenwert hat wie die gegenteilige Aussage. Und deshalb tragen diese Bannerträger des wissenschaftlichen Unsinns ganz erheblich zur Desorientierung anderer bei. Außerdem haben sie noch aus einem anderen Grund ein kommunikatives Übergewicht.
Was ist der Grund?
Güttler: Wir haben auf der anderen Seite die fest Überzeugten, die Impfbefürworter:innen. Sie glauben an die Wissenschaft, sind rational geprägt, informieren sich über verschiedene Quellen. Aber: Sie reden nicht groß darüber. Sie sind eine viel, viel größere Gruppe, aber sie haben deutlich weniger messianischen Eifer. Eben weil das für sie Selbstverständlichkeiten sind: Da gibt’s einen Virus, da gibt’s einen Impfstoff, der mich und andere schützt, also gehe ich zum Impfen. Punkt.
Was leiten Sie daraus ab?
Güttler: Die Impfbefürworter:innen müssen lauter werden. Sie dürfen den anderen nicht das Feld überlassen, bloß, weil sie sich – vielleicht auch aus einer gewissen intellektuellen Überheblichkeit heraus – mit deren „Argumenten“ nicht auseinandersetzen wollen. Im Internet gilt: Nichts ist selbstverständlich, bloß weil es vermeintlich richtig ist. Denn auch das ist ein Learning der digitalen Kommunikation: Die Masse zählt, nicht die Klasse. Die dreifach wiederholte Dummheit schlägt die einfach ausgedrückte Wahrheit – und zwar um Längen. Es geht im Web um Quantität, nicht um Qualität. Darüber müssen wir uns im Klaren sein, wenn wir über Kommunikation etwas verändern wollen.
Was ist mit den Unentschlossenen?
Güttler: Die Unentschlossenen lassen sich aufteilen: in diejenigen, die dem Thema wohlwollend gegenüberstehen, und diejenigen, die eher kritisch eingestellt sind, aber immerhin bereit sind, das Ganze noch zu diskutieren, sich auf den sachlichen Dialog einzulassen. Und wir haben herausgefunden, dass diese letzte Gruppe auf die „moralische Keule“ ganz empfindlich reagiert.
Das heißt: Wir müssen diese Menschen anders ansprechen?
Güttler: Genau. Unsere Untersuchungen zeigen, dass man sich argumentativ mit ihnen auseinandersetzen, sie bei ihren Sorgen abholen muss, statt ihnen zu erklären, dass sie mit ihrer skeptischen Meinung falsch liegen. Das unterscheidet sie von den wohlwollend Unentschlossenen – denn interessanterweise funktioniert dort viel häufiger die Moralkeule. Da funktioniert der Gedanke: „Mach es für die Gesellschaft.“
Was leiten Sie als Kommunikationswissenschaftler daraus ab?
Güttler: Der Ansatz „One-fits-all“ funktioniert nicht; ich sehe die Kampagnenansätze, die es seit Anfang der Pandemie gibt, deshalb skeptisch. Aber das Gute ist: Er muss es auch gar nicht, weil wir ja heute in der Lage sehr „targeted“, heißt: zielgenau, vorzugehen. Ich plädiere daher für Differenzierung, dafür, dass wir die Sorgen der Leute ernst nehmen. Es hat keinen Sinn, dass wir kommunikativ draufhauen, weil wir vermeintlich auf der richtigen Seite stehen und uns dann zwar wohlfühlen, aber nichts erreichen. Und im Moment erreichen wir nichts: Es gibt wenige Anzeichen, dass sich die Impflücke in Deutschland noch wesentlich schließen wird.
Was ist konkret Ihre Empfehlung?
Güttler: Die Unentschlossenen mit den Tendenzen „eher befürwortend“ und „eher ablehnend“ müssen im Zentrum der kommunikativen Strategie der Politik stehen. Unsicherheit ist menschlich und kritisches Hinterfragen mehr als richtig. Jedoch dürfen wissenschaftlich fundierte Argumente nicht von unqualifizierten Meinungsbildner:innen in ihrer Wertigkeit gemindert werden – sondern müssen mit Vehemenz verteidigt werden. Unser Appell: Diskussionen nicht aus Bequemlichkeit ausklingen lassen, sondern konstruktiv weiterführen. Die Bedenken ernst nehmen, genau hinschauen und verstehen – um dann die richtigen sachlichen und emotionalen Argumente vorzubringen. Wenn wir den Fehler machen, Unentschlossene als Impfgegner:innen einzustufen, laufen wir Gefahr, dass sie genau das werden.
Wird die Debatte um die Impfpflicht das Ganze noch einmal verschärfen?
Güttler: Das Risiko bei der Debatte um die Impfpflicht sehe ich darin, dass wir Viele, die wir argumentativ noch erreichen könnten, gänzlich verlieren, einfach, weil sie sich nicht impfen lassen wollen, vor allem, wenn sie noch nicht überzeugt sind. Aber beim Thema Impfpflicht ist das nicht das das eigentliche Problem.
Sondern?
Güttler: In Deutschland dauern solche Diskussionen zu lang, man lässt sie treiben und die Politik moderiert sie zu wenig. Dadurch entsteht Unsicherheit. Wir sind nun im zweiten Jahr der Pandemie und es entsteht der Eindruck, dass wir bisher wenig dazugelernt haben. Andere Länder sind da schneller, wie das Beispiel Italien mit der Impfpflicht ab 50 Jahren zeigt. Wir diskutieren in Deutschland selbst die Sinnhaftigkeit einer Impfpflicht in medizinischen oder pflegerischen Einrichtungen, die eigentlich – und zwar unabhängig von dieser Pandemie – eine Selbstverständlichkeit sein müsste. Ich will doch nicht, dass mein hochbetagter Vater von einer ungeimpften Fachkraft gepflegt wird. Leider haben wir in Deutschland gelernt, uns tot zu diskutieren. Auch das ist aus kommunikativer Sicht ein Fehler.
Je länger die Diskussion, desto tiefer die Spaltung?
Güttler: Je länger die Diskussion, desto tiefer die Spaltung. Wenn wir die Impfpflicht in der Hochphase von Corona entschlossen angepackt hätten, hätte man viele überzeugen können. Jetzt wird das extrem schwierig werden, vor allem, wenn man plötzlich nicht einmal mehr Masken für notwendig erachtet. Aber der nächste Corona-Winter kommt bestimmt.