„Für viele Menschen gerade mit schwer- oder gar nicht behandelbaren Erkrankungen […] gibt es durch Gen- und Zelltherapien erstmals Behandlungsmöglichkeiten auf neue Art“, erläuterte Knoll. Das gilt insbesondere für seltene Leiden. „Aber auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, also große Volkskrankheiten“ seien im Blick der Forschung. Das Besondere ist der Ansatz: „Dass man nicht am Symptom einer Krankheit arbeitet, sondern dass man die Krankheit an ihrem Ursprung – an der Zelle oder dem Gen – behandelt oder im besten Fall heilt.“
Gerade in diesem Bereich kann Deutschland eine „große Stärke in der Grundlagenforschung“ vorweisen, sagte Dr. Claus Runge vom forschenden Life-Science-Unternehmen Bayer AG und lobte die hiesige akademische Landschaft. Ulrike Gote, Senatorin für Wissenschaft, Gesundheit, Pflege und Gleichstellung in Berlin, nannte „die großen Universitäten“ wie die Charité, die „unglaublich starke“ außeruniversitäre Forschung „und natürlich die forschenden Unternehmen“. Das Ganze sei „eine Gemengelage, die man sehr, sehr selten noch woanders findet“. Soll heißen: Das Potenzial ist groß.
Doch gehoben wird es nicht zufriedenstellend: „Wenn wir die letzten 10 Gentherapien seit 2018 betrachten, dann können wir feststellen, dass diese Therapien vorwiegend in den USA entwickelt werden“, erklärte Dr. Martina Schüßler-Lenz vom Paul-Ehrlich-Institut (PEI). Sie ist auch im Ausschuss für neuartige Therapien bei der Europäische Arzneimittelagentur EMA tätig. „Die Translation und die klinischen Prüfungen finden in den USA statt. Und die klinischen Prüfungen kommen erst relativ spät nach Europa.”
Deutschland und Europa: Zu langsame, kleinteilige Prozesse
Gründe gibt es viele. Prof. Dr. Simone Spuler, Forscherin und Expertin für Muskelkrankheiten, sprach aus eigener Erfahrung: „Es geht alles viel zu langsam.“ Die administrativen Prozesse beim Aufsetzen klinischer Studien seien sehr langwierig „und könnten beschleunigt werden“. CDU-Politiker Thomas Jarzombek, Mitglied des Bundestages, verwies auf „sehr komplexe Antragsverfahren“. Vielleicht müsste man „überlegen, ein komplett neues System aufzubauen“ und radikal neue Wege zu gehen. Er sprach beispielhaft von der „Strategie der Reallabore“. Reallabore sind als Testräume für Innovation und Regulierung gedacht: Laut dem Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz machen sie „es möglich, unter realen Bedingungen innovative Technologien, Produkte, Dienstleistungen oder Ansätze zu erproben, die mit dem bestehenden Rechts- und Regulierungsrahmen nur bedingt vereinbar sind.“ Basis sind zumeist sogenannte Experimentierklauseln.
Sowohl in Deutschland mit seinem Föderalismus als auch auf europäischer Ebene mit den einzelnen Mitgliedsstaaten ist die Regulation kleinteiliger als etwa in den USA. Dass es da „Erneuerung“ bedarf, sei erkannt worden, meinte Frau Dr. Schüßler-Lenz.
So habe die EU-Kommission eine Arzneimittel-Strategie für Europa aufgesetzt. „Wir arbeiten auf Ebene des Ausschusses für neuartige Therapien der EMA mit. Wir machen Vorschläge, wie die neue Regulation aufgestellt werden sollte. Und ich gehe davon aus, dass sich unsere Gesetzgebung auf nationaler Ebene da auch einbringt.“ Überhaupt soll in Europa künftig viel passieren: Geplant ist es, die Vielzahl der nationalen Nutzenbewertungen zu neuen Arzneimitteln zu harmonisieren („EU-HTA“). Außerdem gehört die Schaffung eines europäischen Gesundheitsdatenraums zu den Prioritäten der EU-Kommission für die Zeit bis 2025. Das würde die Erhebung von Daten zu dem Einsatz von Gen- und Zelltherapien nach der Zulassung unter Alltagsbedingungen vereinfachen.
Gen- und Zelltherapien: Standort stärken
Darüber hinaus gibt es viele weitere Stellschrauben: Luft nach oben gibt es beim sogenannten Wagniskapital, das in neu gegründete Firmen investiert wird. Laut Dr. Runge, Bayer, lag der Anteil des Wagniskapitals am Bruttoinlandsprodukt 2018 in den USA bei „etwas über einem halben Prozent“. In Deutschland betrug er hingegen „gerade mal 0,04 Prozent.“
Prof. Dr. Christopher Baum, Vorstand im Translationsforschungsbereich der Charité und Vorsitzender des Direktoriums des „Berlin Institute of Health“, findet, dass die Bundesrepublik mehr Zentren schaffen müsste, „in denen alle Köpfe und Player zusammenkommen“ – als „eine Brutstätte für Innovation und für die Interaktion mit der Gesellschaft“. „Silos“ zwischen Akademie und Industrie gilt es zu überwinden: „Wir brauchen faktisches Co-Working“, sodass gemeinsam in einem transparenten Umgang an Ideen gearbeitet wird.
Dieser Rationale folgt ein neues Projekt, das vor zwei Wochen angeschoben wurde: Das Land Berlin, die Bayer AG und die Charité haben eine Absichtserklärung zur Gründung eines Zentrums für Translation im Bereich der Gen- und Zelltherapien unterzeichnet. Es soll Wissenschaft und Wirtschaft zusammenbringen und die Translationslücke schließen – also die Überführung von Forschungserkenntnissen in klinische Prüfungen und marktreife Arzneimittel für die Patient:innen verbessern.
„Wir wollen ein florierendes Ökosystem am Standort, wo wir Akademikern und Start-ups, die mit guten Ideen kommen, die Hilfestellung leisten, die sie brauchen, damit sie am Ende nicht nur publizieren, sondern auch Produkte und Ausgründungen machen“, so Bayer-Mann Dr. Runge. „Ich bin zuversichtlich, dass wir mit dieser Partnerschaft, die wir […] systematisch mit weiteren Partnern aus akademischer und industrieller Forschung ausbauen wollen, […] ein tolles Netzwerk in Deutschland schaffen können. Es gibt wahnsinnig große Stärken, die wir einfach nur heben müssen.“
Das hybride Tagesspiegel-Politikfrühstück zum Thema Gen- und Zelltherapien fand am 11. Mai 2022 mit Unterstützung der Bayer AG statt.