Auch der gestern veröffentlichte GKV-Arzneimittelindex stellt vor allem die Kosten in den Mittelpunkt. Noch nie habe es so viele neue Arzneimittel gegeben, die so teuer waren, heißt es in der Pressemitteilung des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO), das die Studie erstellt hat. Alleine acht neue Wirkstoffe seien mit einem Preis von mehr als 10.000 Euro pro Packung gelistet. Um welche Wirkstoffe es sich dabei handelt und welchen therapeutischen Wert sie mit sich bringen, wird nicht thematisiert.
Eine Erklärung: Unter den neuen Wirkstoffen sind 14 so genannte Orphan Drugs – Arzneimittel, die für die Behandlung seltener Erkrankungen zugelassen sind. Für Orphan Drugs gibt es wenig Patienten – die Entwicklung aber ist genauso kostspielig wie für alle anderen Arzneimittel. Die Preise für Orphan Drugs sind daher meistens sehr hoch – die Kosten, die sie verursachen nicht. Die deutliche steigende Anzahl der Orphan Drugs zeigt, dass die Prozesse zur Forschungsförderung funktionieren: Um einen Markt zu schaffen, wo es keinen gibt, wurde im Jahr 2000 eine EU-Verordnung geschaffen, die die Entwicklung von Medikamenten gegen seltene Erkrankungen besonders fördert. 116 Medikamente wurden seitdem zugelassen – und vieles ist in der Pipeline.
Kann es zu viel Innovation geben?
Die Auswertung des Arzneimittelindex wirft die Frage auf: Kann es zu viel Innovation geben? Und wie viel darf Innovation pro Jahr kosten? Jahrelang standen forschende Pharmaunternehmen unter Beschuss: Die Pipelines trocken, die Innovationsfähigkeit am Boden, das Geschäftsmodell der Global Player nicht mehr funktionstüchtig. Die Krankenkassen kritisierten, dass es zu wenig neue Therapien für die Patienten gebe, dass die seltenen Erkrankungen nicht berücksichtigt würden. Jetzt sind die Therapien da, jetzt sind die Kosten zu hoch. Aber nicht die Kosten für eine einzelne Therapie sind zu hoch, sondern die Gesamtkosten für alle Innovationen. Sind es also doch zu viele Innovationen? Selbst wenn es so wäre – kontrollieren kann das niemand.
Denn Arzneimittelforschung verläuft in Zyklen. Sie ist ein langfristiges Geschäft und letztlich abhängig von den Erkenntnissen der Wissenschaft. Die Entscheidung für die Entwicklung eines neuen Krebsmedikamentes ist zunächst nicht von der Frage getrieben, wieviel Geld sich damit verdienen lässt. Sie ist erst einmal eine wissenschaftliche Frage: Erlauben es neue Erkenntnisse, dass über neue Therapieansätze nachgedacht werden kann oder bestehende Therapien verbessert werden können? Alles andere wäre wirtschaftliches Harakiri: Denn zwischen der Entscheidung über die Entwicklung und der möglichen Vermarktung eines neuen Medikamentes liegen Jahre, oft Jahrzehnte.
Kostentreiber vs. volkswirtschaftlicher Gewinn
Besonders herausgehoben werden im GKV-Arzneimittelindex die neuen Therapien zu Hepatitis C. Der Wirkstoff Sofosbuvir war als 1.000-Dollar-Pille 2014 immer dann im Gespräch, wenn Krankenkassen zeigen wollten, wie sehr einzelne Medikamente die Versicherer überfordern. 7.800 Patienten wurden 2014 laut GKV-Arzneimittelindex mit Sofosbuvir behandelt. 7.800 Patienten mit hohen Therapiekosten – aber sehr wahrscheinlich mehrere tausend Patienten, die sonst nicht geheilt worden wären. Volkswirtschaftlich seien die Kosten zumindest für dieses Medikament ein Gewinn, sagt Gesundheitsökonom Prof. Dr. Hendrik Jürges von der Uni Wuppertal im Interview. Hier erzählt der Packungspreis von 20.000 Euro alleine also nicht die ganze Geschichte.
Was bei der Preisdiskussion außerdem vergessen wird: Viele neue Therapieansätze, die im Kampf gegen Hepatitis C entwickelt wurden, haben die Marktreife nie erreicht. Denn sie versprachen Heilungsraten von „nur“ 70 Prozent. Vor zehn Jahren wäre das eine kleine Sensation gewesen. Als Sofosbuvir und die Nachfolgewirkstoffe auf den Markt kamen, veränderte das die Lage: 70 Prozent waren plötzlich kein Fort-, sondern ein Rückschritt. Für viele Hersteller hieß das: Abschreibungen in dreistelliger Millionenhöhe.
Soll heißen: Sofosbuvir ist ein Einzelfall. Die Arbeit an innovativen Therapien ist keine Lizenz zum Gelddrucken. Das zeigt auch eine jüngst veröffentlichte Studie aus den USA: Die weltweiten Nettoerlöse neu entwickelter Medikamente sinken, die Entwicklungskosten steigen.