Der Cholesterinwert ist ein sogenannter Surrogatparameter. Das heißt, er ist kein direkter Auslöser von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, begünstigt sie aber – so der Stand der Forschung. Kritiker sagen, die Schädlichkeit eines hohen Cholesterinspiegels sei eine Erfindung von Ärzten und Pharmaindustrie. Treffen Sie in der Lipidambulanz auf Patienten, die verunsichert sind von dieser Diskussion?
Prof. Dr. Elisabeth Steinhagen-Thiessen: Es kommen natürlich immer Patienten mit Fragen zu uns. Oft sind sie verunsichert über Meldungen in den Medien, haben nur einen Teil dieser Meldungen richtig verstanden oder können die Informationen nicht richtig einordnen. Vor einigen Jahren waren die Verunsicherungen noch sehr viel größer, zum Beispiel als das Buch „Die Cholesterinlüge“ erschien. Da mussten wir viel Aufklärungsarbeit leisten.
Für Laien ist es oft schwer zu verstehen, dass die Ausprägung einer Erkrankung wie der Koronaren Herzkrankheit (KHK) ganz unterschiedlich sein kann. Der eine Patient hat nur mäßig erhöhte Cholesterinwerte und ist von einer schwerwiegenden KHK betroffen. Ein anderer Patient dagegen hat dieselben Cholesterinwerte und ist bislang noch völlig gesund. Der individuelle Cholesterin-Zielwert richtet sich deshalb nach dem Alter, nach dem Geschlecht, nach Risikofaktoren wie Rauchen, Diabetes, Übergewicht, Immobilität – also wenig Bewegung, hohem Blutdruck usw. Und dann spielt die genetische Veranlagung zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen eine ganz, ganz wichtige Rolle. Auf Basis all dieser Faktoren wird für jeden Patienten eine individuelle Behandlungsstrategie erarbeitet.
Aber was die Evidenz der Statintherapie angeht: Für kaum ein anderes Medikament gibt es so viele Studien, die zeigen, dass sowohl Morbidität als auch Mortalität durch die Behandlung signifikant positiv beeinflusst wird.
Gibt es aus Ihrer Sicht eine echte Alternative zur Behandlung von Herz-Kreislauf-Patienten?
Prof. Steinhagen-Thiessen: Also wann brauchen wir überhaupt eine Alternative? Nur, wenn ein Patient keines der im Handel verfügbaren Statine verträgt. Eine komplette, also alle Statine betreffende Intoleranz ist jedoch selten. Für diese Patienten brauchen wir Alternativen.
Viele Patienten vertragen das eine oder andere Statin nicht, hier können wir auf verschiedene Präparate zurückgreifen. Außerdem ist die sogenannte Intoleranz auch von der jeweiligen Dosis abhängig, oft reicht eine Dosierungsänderung aus.
Es gibt Patienten, für die brauchen wir noch zusätzlich lipidsenkende Medikamente: Das ist die Gruppe der Patienten, die ihren Zielwert mit einem Statin nicht erreichen. Zum Beispiel wenn wir bei einem Patienten einen LDL-Cholesterin Wert unter 70 mg/dl erreichen wollen und dies mit der maximal tolerierbaren Statindosis nicht möglich ist. Dann haben wir noch Wirkstoffe wie Ezetimib, Gallsäurebinder oder Nikotinsäure – und vor allem für High Risk-Patienten jetzt sehr bald die PCSK-9-Hemmer zur Verfügung.
Wie sehen Sie den Einsatz von Statinen bei der Primär-Prävention von Herz- Kreislauferkrankungen, also bei gesunden Menschen?
Steinhagen-Thiessen: Zu diesem Thema ist zu sagen, dass ich die Begriffe Primär – und Sekundärprävention für überflüssig halte. Meines Erachtens ist das pathophysiologisch doch dasselbe. Der Unterschied ist, dass es bei dem einen Patienten bereits zu einem koronaren Ereignis kam und bei dem anderen noch nicht. Wir Ärzte wollen doch, dass unsere Patienten erst gar nicht krank werden, deshalb ist eine frühzeitige Therapie zur Prävention eine große Chance, die nicht verpasst werden sollte.
Wer gesund ist, keine Risikofaktoren und kein LDL-Cholesterin über 115mg/dl hat, muss natürlich nicht behandelt werden. Ansonsten empfehle ich bei mäßig erhöhten Cholesterinwerten erst einmal: Aufhören zu rauchen, regelmäßig Sport treiben, eine ausgewogene und gesunde Ernährung und Normal- beziehungsweise Idealgewicht erreichen.
Besteht aus Ihrer Sicht die Gefahr einer Statin-Übertherapie in Deutschland?
Steinhagen-Thiessen: Nein. Bei einer leitliniengerechten Behandlung besteht aus meiner Sicht in Deutschland keine Gefahr, zu viele Menschen zu behandeln.
Wie kommen Ihre Patienten mit den Präparaten im Alltag zurecht?
Steinhagen-Thiessen: In der Regel sehr, sehr gut. Aber: Man muss sich Zeit nehmen, den Patienten gut und ausführlich aufzuklären. Ich mache häufig Zeichnungen, um ihnen die Mechanismen zu erklären. Wir geben ausführliches Infomaterial mit und bieten an der Charité an vier Abenden pro Woche eine strukturierte Schulung für unsere Patienten an.
Foto: Charité