Arzneiverordnungsreport (AVR) unter der Lupe

In dieser Woche erscheint der Arzneiverordnungsreport (AVR) des wissenschaftlichen AOK-Instituts WIdO. Eine Analyse des Vorjahresreport durch den Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) zeigt: Mit Methodik haben es die Autoren nicht so.

Der Arzneiverordnungsreport (AVR) ist eine Institution: Seit 1985 errechnen seine Autoren Einsparpotenziale (ESP) bei Arzneimitteln. Das können dann mal, wie im Jahr 2011, mit zwölf Milliarden Euro ca. die Hälfte der Gesamtausgaben für Medikamente sein. Innerhalb der pharmazeutischen Industrie hält sich deshalb die Vorfreude auf den Report in sehr engen Grenzen. Und das nicht nur, weil der AVR regelmäßig als Argument für Spargesetze zu Lasten der Industrie herhalten musste, sondern auch, weil einige der angewandten Methoden fragwürdig sind.

Herausgeber des AVR sind der Pharmakologe Prof. Dr. Ulrich Schwabe und der Ökonom Dieter Paffrath. Die Daten basieren auf den Verordnungsdaten des GKV-Arzneimittelindexes, der vom Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) erstellt wird. Der BPI hat es sich zur Aufgabe gemacht, den AVR Jahr für Jahr zu analysieren. Dabei zeigt sich: Allein die internationalen ESP, vom AVR auf rund zwei Milliarden Euro taxiert, sind um mehr als 80 Prozent überschätzt.

„Erbsenzählerei“ mit milliardenschweren Folgen

15 methodische Mängel wirft der BPI den AVR-Machern vor. Was wie Erbsenzählerei klingt, hat milliardenschwere Folgen. Besonders in der Kritik steht, dass im AVR mögliche ESP doppelt gezählt werden. Das sieht zum Beispiel so aus:

 

Man nehme ein Antidepressivum mit dem Wirkstoff Duloxetin und unterstelle, dass das Präparat durch günstigere Varianten ersetzt werden kann – etwa, weil es eine generische Version gibt, oder weil man es nach Meinung des AVR durch andere, aber günstigere Präparate ersetzen könnte. In diesem Beispiel stehen den Nettoausgaben der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) in Höhe von 162,5 Millionen Euro ein ESP von 144,5 Millionen gegenüber. Soweit, so gut (obwohl die grundsätzliche Austauschbarkeit medizinisch betrachtet auch nicht unumstritten ist).

Den AVR-Autoren reicht das noch nicht. Sie schauen über die Grenze. In ihre weiteren Berechnungen fließt das Preisgefälle innerhalb der EU ein. Das Resultat: 88,3 Millionen Euro ließen sich einsparen, wenn man das Produkt zu ausländischen Preisen importieren würde.

Einsparungen werden doppelt gezählt

Diese beiden ESP zählt der AVR zusammen. So stehen den Nettoausgaben der GKV für dieses Antidepressivum in Höhe von 162,5 Millionen Euro Einsparungen in Höhe von 232,8 Millionen Euro gegenüber. Das ESP nur dieses einen Präparats liegt um rund 70 Millionen Euro über den tatsächlichen Ausgaben. Auf diese Weise kommen die AVR-Autoren auf ein Spar-Volumen von fast 2 Milliarden Euro. Der BPI hält dagegen: 343 Millionen Euro davon seien Doppelzählungen.

Übrigens: Das doppelte Zählen von Einsparmöglichkeiten ist eine Konstante im AVR. Nur im Jahre 2012 wurde es nicht praktiziert und so begründet: „Da die Einsparpotenziale umsatzstarker Analogpräparate durch Substitution mit identischen Arzneimitteln teilweise bereits in die Berechnung der Einsparpotenziale bei patentgeschützten Arzneimitteln […] und generikafähigen Arzneimitteln […] eingegangen sind, muss die so ermittelte Summe von 532,1 Millionen Euro bei der Gesamtrechnung berücksichtigt werden, so dass sich der Betrag auf 1.313,2 Millionen Euro reduziert.“1 Eine Einsicht, die nur ein Jahr hielt. Danach waren die Doppelzählungen wieder Bestandteil der WIdO-Analyse.

Weiterer Fehler bei der Behandlung der Mehrwertsteuer

Um zu belegen, wie teuer in Deutschland erhältliche Arzneimittel sind, setzen Schwabe/Paffrath auf internationale Vergleiche. Das für den AVR 2014 gewählte Referenzland ist Frankreich. Doch die Preise sind wissenschaftlich betrachtet nicht eins zu eins vergleichbar, denn die Mehrwertsteuersätze unterscheiden sich erheblich (Frankreich: 2,1 Prozent, Deutschland 19 Prozent). Um die Preise vergleichen zu können, müsste deshalb die Mehrwertsteuer „neutralisiert“, sprich: herausgerechnet werden. Das ist eigentlich ganz einfach: Man müsste nur die Preisdifferenz pro Produkt – nach Abzug der Mehrwertsteuer – nehmen und sie mit der Verordnungsmenge multiplizieren.

 

Der AVR hingegen wählt einen anderen und unnötig komplizierteren Weg: Die Autoren ermitteln zunächst eine mehrwertsteuerfreie Relation der Produktpreise – dazu teilen sie den französischen durch den deutschen Preis (jeweils ohne Mehrwertsteuer). Dann gewichten sie mit dieser Relation den deutschen Umsatz des Produktes. Aus der Differenz zwischen gewichtetem und ungewichtetem deutschen Umsatz ergibt sich dann das ESP. Ein kompliziertes Vorgehen, aber bis dahin wenigstens noch korrekt. Doch im weiteren Verlauf wird es grotesk. Denn es stellt sich heraus, dass der deutsche Umsatz inklusive der Mehrwertsteuer berücksichtigt wird. Die Steuer, die eigentlich neutralisiert werden sollte, ist damit plötzlich wieder in der Rechnung enthalten – allein dieser methodische Fauxpas führt zu einer Überschätzung des ESP um ca. 139 Millionen Euro.

Das fehlerhafte Herausrechnen der Mehrwertsteuerunterschiede ist ein weiterer Klassiker des AVR. Nur 2011 wurde es aus unerfindlichen Gründen nicht praktiziert.

AVR vergleicht „Äpfel mit Birnen“

Häufiger neigen die Autoren dazu einen Vergleich auf Basis verschiedener Preisstände anzustellen. So wurde das ESP 2013 auf Basis von Preisen aus dem Jahr 2014 errechnet. Laut BPI führt allein das zu einer Überschätzung des ESP um 1,12 Milliarden Euro. Das liegt daran, dass der Herstellerrabatt 2013 noch 16 Prozent betrug, der AVR aber mit sieben Prozent gerechnet hat. Dieser Rabatt galt aber erst ab 2014.

Ziel der internationalen Vergleiche ist es, zu zeigen, wie teuer Arzneimittel angeblich in Deutschland sind. Im AVR 2014 mit dem Vergleichsland Frankreich werden Apothekenverkaufspreise herangezogen. Dabei wurde unter anderem der Blutgerinnungshemmer Rivaroxaban verglichen – er ist laut AVR in Frankreich um ein Fünftel (minus 22,5 Prozent) günstiger. Was unter den Tisch fällt, aber enorme Konsequenzen hat: Der Mehrwertsteuersatz auf Arzneimittel ist in Frankreich niedriger (2,1 vs. 19 Prozent), dafür jedoch die Apothekervergütung höher. Hinzu kommt: Zieht man noch den damaligen Herstellerrabatt in Höhe von 16 Prozent ab, liegen die Preise, die letztlich der Hersteller verantwortet, fast gleich auf – Frankreich ist um 0,6 Prozent teurer.

Fast zwei Milliarden Euro, so hieß es im AVR im vergangenen Jahr, ließen sich bei patentgeschützten Präparaten allein im internationalen Preisvergleich einsparen. Der BPI setzt dagegen: Dieses Einsparpotenzial ist um 80 Prozent überschätzt und kommt nur auf knapp 400 Millionen Euro – das ist gerade mal eine Einsparung von 3,1 Prozent. Diese Zahl verliert nach Meinung des Verbandes noch zusätzlich an Wirkung, wenn man bedenkt, dass das deutsche Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Kaufkraftstandards fast 14 Prozent höher liegt als das französische. Die Kritik an der Methodik – auch der immer wieder wechselnden Methodik – ficht das Autorenteam nicht an – zumindest nicht bis heute.

Quelle:

1 U. Schwabe, D. Paffrath: Arzneiverordungsreport 2012, S. 37.

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