Eine wissbe-gierige Branche

„Sklaven einer gierigen Branche“ – so beschreibt der Spiegel (Ausgabe 40/2015) Teilnehmer von klinischen Studien in Schwellenländern. Einige entscheidende Fakten fallen dabei unter den Tisch.

 

Es gibt einen einfachen Grund, warum klinische Studien auch in ärmeren Ländern stattfinden: Dort leben Menschen. Auch solche, die krank sind. Die zunehmend an so genannten Wohlstandskrankheiten leiden wie Diabetes, Krebs, Herzkreislauf- oder Atemwegserkrankungen. Und diese Menschen haben ein Recht darauf, am medizinischen Fortschritt teilzunehmen. Seit Jahren nehmen Studien in Schwellenländern zu – nur die Motivation ist eine andere, als die vom Spiegel unterstellte: Es geht nicht nur ums Geld. Es geht nicht darum, dass dort weniger kritische Fragen gestellt werden. Denn die Industrie würde sich selbst ins Bein schießen, wenn sie so handeln würde.

 

Zunächst zu den Fakten – die Zahlen sind von 2011: Fast zwei Drittel (62,7%) der Studienteilnehmer leben in Westeuropa, USA oder Kanada. Danach folgen Süd- und Mittelamerika (13,6%) sowie Mittlerer Osten bzw. Asiatisch-Pazifischer Raum (12,8%). 7,5 Prozent der Teilnehmer weltweit sind in den GUS-Staaten beheimatet, auf den riesigen Kontinent Afrika entfallen gerade mal 1,6 Prozent. Der Trend ist klar: Noch 2005 wurden rund 80 Prozent der Studienteilnehmer in Nordamerika und Westeuropa rekrutiert. Immer mehr Studien finden in Schwellenländern statt.

Klinische Studien verbessern die Versorgung

Eine klinische Studie in einem Schwellenland durchzuführen, kostet weniger, als eine an der Charité. Das ist nicht weiter verwunderlich. Ärzte in Berlin verdienen anders als Ärzte im indischen Indore. Wer aber glaubt, der Trend habe nur mit Geld zu tun, der hat wenig verstanden. Denn Studien mit minderer Qualität können in Sachen Erkenntnisgewinn in einer Katastrophe enden, wie der Spiegel selber schreibt: „Ein Mittel kann aber nur so sicher und so gut sein wie die Studien, die ihm jene Sicherheit und Güte bescheinigen.“ Studien mit guten Aussagewerten müssen in einem Umfeld mit sehr guten klinischen Bedingungen stattfinden. Die Tatsache, dass mehr Studien in Schwellenländern durchgeführt werden, bedeutet: Die medizinische Versorgung hat sich entsprechend verbessert. Oder noch pointierter: Dass Studien in Schwellenländern zunehmen, ist eine überfällige Korrektur eines globalen, aber immer noch westlich geprägten medizinisch-wissenschaftlichen Komplexes.

Es geht um viel Geld – klinische Studien sind extrem teuer. Niemand hat etwas von früh verfügbaren positiven Ergebnissen, die später eventuell kassiert werden müssen, weil man nicht genau hingeschaut hat.

In seiner Wirkung muss Arzneimittel ist nicht gleich Arzneimittel sein – so bringen z.B. Inder im Durchschnitt weniger Gewicht auf die Waage als Deutsche. Das hat Folgen für die Entwicklung medizinischer Produkte, wie der Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), Karl Broich erklärt.  Es gibt sogar Medikamente, die zwar in den USA zugelassen sind, aber in Europa nicht. Hier spielen verschiedene Ethnien eine Rolle. So ist z.B. bekannt, dass Blutdrucksenker aus der Gruppe der Sartane bei Menschen mit schwarzer Hautfarbe deutlich weniger wirken, als bei hellhäutigen Patienten. Wer also Medikamente für eine globale Welt will, muss sie auch weltweit testen. „Pharmakolonialismus?“ Nein, das habe mit der Realität wenig zu tun, so der BfArM-Chef.

Zulassungsvoraussetzung sind Studien im eigenen Land

Auch die Länder selbst haben reagiert. Immer mehr sind dazu übergegangen, Arzneimittel überhaupt erst zuzulassen, wenn Daten aus dem eigenen Land vorliegen. Das ist z.B. in Indien so. Nicht die Suche nach Sklaven (!) „treibt“ die Industrie, sondern die berechtigten Ansprüche von eigenständigen Nationen, die wissen wollen, ob ein Arzneimittel für ihre Bevölkerung überhaupt Sinn ergibt. Es ist das rationale Handeln einer wissbegierigen Branche.

Der Spiegel-Artikel zeichnet das düstere Bild eines Systems, „in dem eine gierige Branche Armut und Bildungsmangel ausnutzt. Der Patient gilt in dieser Welt nicht als kranker Mensch, sondern als Fall, der gefälligst Studiendaten zu liefern hat, so viele, wie’s geht, so schnell, wie’s geht, damit sich möglichst lange Reibach machen lässt mit dem neuen Medikament.“ Anhand von vier tragischen Einzelschicksalen wird ein gesamtes System, werden alle Unternehmen in „Sippenhaft“ genommen. Aber sind diese nicht vielmehr ein Beleg dafür, dass in Einzelfällen korrupte Ärzte und Krankenhäuser sich nicht an Regeln gehalten haben? Klar ist: Jedes dieser Einzelschicksale darf nicht passieren. Aber ist „Big Pharma“ hier wirklich der richtige Adressat, wenn Heilberufler sich vor Ort nicht an Regeln halten?

Studien in Schwellenländern: Auch der Westen profitiert

„Gerade weil es um viel Geld geht, haben die pharmazeutischen Unternehmen ein hohes Eigeninteresse, unsere strengen Zulassungsanforderungen zu erfüllen“, sagt BfArM-Chef Broich. Doch die Erfahrung lehrt, dass es immer wieder Menschen gibt, die mit hoher krimineller Energie versuchen, sich Vorteile zu verschaffen. Solche Menschen finden sich in Behörden, unter Ärzten, im örtlichen Fußballverein und auch in Unternehmen. Ein System ist das deshalb noch lange nicht.

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