Kritiker monieren, von Orphan Drugs profitiere nur eine Seite – nämlich die Pharmaunternehmen. Wie bewerten Sie das?
Dr. Andreas Reimann: Fragen Sie die Patienten, die dank eines der zugelassenen Orphan Drugs einen besseren Verlauf ihrer schweren Erkrankung erleben oder sogar ein einigermaßen normales Leben führen können. Es zeugt von einer großen Patientenferne zu behaupten, diese Patienten hätten keinen Nutzen von diesen Arzneimitteln.
Ich selbst kann nichts daran finden, dass pharmazeutische Unternehmen, die sich auf eine risikoreiche und oft frustrierende Arzneimittelentwicklung einlassen, daran verdienen. In unserem Wirtschafts- und Gesundheitssystem bewegt sich nun einmal leider nichts für die Patienten, wenn die Versorgung nicht auch wirtschaftlich auskömmlich ist. Das ist übrigens auch bei Ärzten und Krankenhäusern so. Das mag man falsch finden, aber im Interesse der Patienten ist es nicht, hier ideologische Grabenkämpfe zu führen, sondern konkrete alternative Modelle umzusetzen. Ich selbst fände diese prima: Nur wo sind denn die ganzen Kritiker, wenn es darum geht, beispielsweise das Entwicklungsrisiko solidarisch zu finanzieren oder zumindest öffentlich abzusichern und dafür natürlich auch den Preis des Arzneimittels erheblich herabzusetzen?
Ein weiterer Vorwurf lautet, dass Pharmaunternehmen immer mehr Orphan Drugs produzieren. Wer bestimmt denn, was wirklich ein Orphan Drug ist und was nicht?
Reimann: Hier gibt es klare gesetzliche Regelungen. In Europa gilt eine Erkrankung als selten wenn nicht mehr als 5 von 10.000 Einwohner betrifft. Tatsächlich sind es meist deutlich weniger, z.B. wenige hundert in ganz Europa. Angesichts der Tatsache, dass es nur für ca. 60 nicht-onkologische Erkrankungen zugelassene Orphan Drugs in Europa gibt und wir von 7.000 bis 9.000 seltenen Erkrankungen sprechen, finde ich das oft gebrauchte Wort von der „Orphanisierung“ zynisch. Auch hier empfehle ich den wohlfeilen Kritikern einfach mal zu Eltern zu gehen, die für ihre mit einer seltenen Erkrankung lebenden Kinder verzweifelt eine wirksame Therapie suchen. Ich kenne viele solcher Eltern. Soll ich denen sagen: „Es gibt doch schon genügend Orphan Drugs, also beschwert euch nicht. Es ist nur eben für Eure Kinder keines dabei?!“ Ich bin dafür, dass wir die Orphan Drug-Entwicklung vorantreiben. Gerne mit alternativen Geschäftsmodellen, für die wir auch Konzepte haben.
Was hat die EU-Verordnung zu Orphan Drugs von 2000 bislang bewirkt? Sehen Sie Punkte, in denen die Verordnung verbessert werden könnte?
Reimann: Die EU-Verordnung hat immerhin bewirkt, dass wir für ca. 60 weitere seltene Erkrankungen zugelassene Arzneimittel haben. In der Tat aber sehe ich Verbesserungsbedarf. Wir brauchen eine Weiterentwicklung des Begriffs „significant benefit“ bei der Zuerkennung und Aufrechterhaltung des Orphan Drug-Status. Wir brauchen auch eine Trennung zwischen Arzneimitteln, die bei seltenen malignen Tumoren eingesetzt werden und von anderen, die für „typische“ seltene Erkrankungen entwickelt werden. Gerade die Onkologie mit ihren sehr komplexen Bedürfnissen und Therapielagen hat eine eigenständige Förderung von Arzneimittelentwicklungen auf europäischer Ebene verdient. Die Vermengung mit Orphan Drugs ist nicht hilfreich. Schließlich bin ich sehr dafür, eine europaweit gültige Nutzenbewertung für alle neuen Arzneimittel durchzuführen. Denn die Evidenz ist immer die gleiche. Denn sie kann meines Erachtens nicht in Deutschland anders aussehen als in Frankreich oder Italien. Im Anschluss an eine solche Nutzenbewertung ist es dann aber die Angelegenheit der nationalen Sozialsysteme, sie in Relation zu den Kosten für das Gesundheitssystem zu setzen.
Zur Person
Dr. Andreas L.G. Reimann ist Geschäftsführender Gesellschafter der admedicum Business for Patients GmbH & Co KG. Er ist ehrenamtlich tätig als Vorsitzender der Allianz Chronischer Seltener Krankheiten (ACHSE). Früher war er Geschäftsführer des Mukoviszidose e.V.