Weniger Orphan Drugs durch strengere IQWiG-Methodik? Illustration: Pharma Fakten
Weniger Orphan Drugs durch strengere IQWiG-Methodik? Illustration: Pharma Fakten

Orphan-Drug-Status: Operation am gesunden Patienten

Rund ein Fünftel der Medikamente, die jährlich zugelassen werden, sind Orphan Drugs – das ist das Ergebnis einer erfolgreichen EU-Förderregelung. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) will das Verfahren ändern und diese Medikamente in die reguläre Nutzenbewertung á la AMNOG überführen. So geht es aus der Stellungnahme des Instituts zum Arzneimittelverordnungsstärkungsgesetz (AM-VSG) hervor. Dabei wird der Zusatznutzen für Orphan Drugs von der europäischen Zulassungsbehörde EMA dreimal geprüft: Zum ersten Mal, wenn der Hersteller den Status beantragt, dann bei der Zulassung und schließlich nach fünf Jahren. Warum also eine erfolgreiche Regelung ändern?

In Deutschland findet gerade – eher unbemerkt – eine kleine medizinische Revolution statt. Erstmals können Kleinkinder, die an Spinaler Muskelatrophie (SMA) leiden, gezielt behandelt werden. Der Grund ist ein neuer Wirkstoff mit dem Namen Nusinersen, der von den Pharmaunternehmen Ionis Pharmaceuticals und Biogen entwickelt wird. Die Zulassung ist beantragt und beschleunigte Verfahren sind zugesagt. Die erkrankten Kinder sollen trotzdem nicht warten – sie können auch nicht. Deshalb haben die Unternehmen ein Härtefallprogramm gestartet: Bis zur Zulassung wird das Präparat den spezialisierten Kliniken kostenfrei zur Verfügung gestellt.

Eine „kleine Revolution“ – kein Wundermittel

SMA ist die häufigste tödliche, genetisch bedingte Krankheit bei Kleinkindern; sie wird meist bald nach der Geburt diagnostiziert. Etwa eines von 10.000 Kindern ist betroffen. Eine Therapie gab es bisher nicht. Kinder mit SMA „erreichen fast nie wichtige Entwicklungsstadien wie unabhängiges Sitzen”, beschreibt Dr. Richard Finkel vom Nemours Children’s Hospital in Florida den Typ I der Krankheit. „Sie werden nie laufen und erliegen normalerweise einem frühen Tod als Folge der fortschreitenden Schwächung der Muskeln, die für das Atmen und die Ernährung verantwortlich sind.“

Der Grund ist ein Webfehler im genetischen Apparat – den Kindern fehlt ein Eiweiß, das die Nervenbahnen schützt. Die Idee von Nusinersen ist es, diesen genetischen Fehler zu überbrücken, was auch zu funktionieren scheint, wie Studiendaten zeigen, die gerade veröffentlicht wurden.  Finkel findet die Studienergebnisse „ermutigend“; das Präparat ist das erste, das bei den genetischen Ursachen der Erkrankung angreift.

Die kleinen Patienten können mit ihrer Erkrankung besser leben, geheilt werden sie allerdings nicht. Auch sollten die Studienergebnisse mit Vorsicht interpretiert werden, denn das Studienkollektiv ist, wie bei solchen Erkrankungen unvermeidbar, sehr klein; weltweit sind nicht einmal 200 Kinder in das gesamte Programm eingeschlossen. Wie gesagt: Nusinersen ist eine „kleine Revolution“. Es ist kein „wonder drug“.

EU-Sonderregelung: Ein Anreizsystem als Erfolgsgeschichte

Es sind im Wesentlichen drei Ursachen, die die Entwicklung eines „Nusinersens“ möglich machen.

  • Weil die meisten dieser Krankheiten genetischen Ursprungs sind, war die Entschlüsselung des Humangenoms Anfang der 2000er Jahre ein Treibsatz für das Finden ganz neuer Ansätze, um entsprechende Medikamente entwickeln zu können.
  • Ein klinisches Projekt im Bereich einer seltenen Erkrankung bedeutet immer auch das Betreten von Neuland. Die Chance zu scheitern ist groß. Trotzdem sind pharmazeutische Unternehmer bereit, dieses Risiko einzugehen.
  • Die gezielte Förderung durch Orphan-Drug-Regelungen hat sich als eine Erfolgsgeschichte erwiesen: Mehr als 120 solcher Medikamente wurden bereits in der EU zugelassen, von denen knapp 90 einen aktiven Orphan-Drug-Status haben. Weitere 1.600 (!) Projekte sind in der Entwicklung.  Vor dem Jahr 2000 gab es ganze fünf (!) Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen

Die Idee war es, ein Anreizsystem zu schaffen – und das ist gelungen. Trotzdem wird diese Regelung aus dem Jahre 2000 immer wieder kritisiert. Von „Orphanisierung“ ist die Rede – und wer diesen Begriff benutzt, meint damit, dass Pharmaunternehmen die Regelung missbrauchen, um von den Anreizen der EU-Regelung zu profitieren. Dabei gibt es strenge Kriterien – und die werden ebenso streng überwacht. Die Gewährung der Anreize ist an enge Bedingungen geknüpft: Seltenheit alleine reicht nicht aus; die Erkrankung muss schwer oder sogar tödlich sein und es muss ein Zusatznutzen nachgewiesen sein. Denn das unterscheidet das Verfahren für seltene Erkrankungen von denen für „normale“ Medikamente: Sie müssen zusätzlich zu den drei Zulassungskriterien Wirksamkeit, Verträglichkeit und Qualität auch noch die Anforderung erfüllen, einen Zusatznutzen gegenüber den bisher vorhandenen Therapien zu haben. Orphan Drugs kommen mit einem behördlich bestätigten Zusatznutzen auf den Markt.

Trotzdem beklagt das IQWiG, dass Orphan Drugs nur einen „fiktiven“ Zusatznutzen haben – ein irreführender Begriff. Sie will Orphan Drugs in die reguläre Nutzenbewertung mit einbeziehen. Die Idee ist übrigens nur neu aufgekocht: Schon in der Vor-AMNOG-Zeit, also in 2010, hatte sich der IQWiG-Chef gegen eine Orphan-Drug-Regelung im Rahmen der AMNOG-Nutzenbewertung ausgesprochen.  Schon damals hatten sie die Patientenvertreter gegen sich. Ihr Argument: Orphan Drugs haben bereits einen durch die EMA anerkannten Zusatznutzen. Sie fürchten, dass Medikamente nur verzögert auf den Markt kommen.

Stehen Methodenfragen gegen Patienteninteressen?

Es geht mal wieder um Fragen der Methodik. Wie das IQWiG in seinem Bericht Nr. 241 „Bewertung und Auswertung von Studien bei seltenen Erkrankungen“  schreibt, „lässt sich keine wissenschaftliche Begründung für eine unterschiedliche Herangehensweise bei der Bewertung von medizinischen Interventionen für seltene und nicht seltene Erkrankungen ableiten.“

Aber warum nicht? Studiendesign oder Bewertungsmethodik sind ja kein Selbstzweck, sondern sollten einem gesundheitspolitischen Ziel dienen, das in diesem Fall lautet: Wir wollen die Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen verbessern. Eine strenge Methodik, so wie es das IQWiG hier fordert, könnte zwar theoretisch mehr Evidenz und damit auch ein höheres Maß an Sicherheit bedeuten, aber eben auch weniger Orphan Drugs, denn die vom IQWiG für den Massenmarkt oft zu Recht geforderte Evidenz ist für den Bereich der seltenen Erkrankungen meist schlicht nicht erbringbar – oder nur mit einer Verzögerung von Jahren.

Das Beispiel Nusinersen zeigt, wie schwer die Abwägung zwischen dem Anspruch auf möglichst hochwertige Evidenz und den tödlichen Folgen einer unbehandelten Krankheit ist. Zu befürchten ist, dass hinter der Überprüfung eines Zusatznutzens durch das IQWiG öfter das Verdikt „kein Zusatznutzen belegt“ stehen würde – mit den entsprechenden negativen Folgen für die Versorgung. Im Falle von Nusinersen könnte ein solches Urteil mit Verweis auf das kleine Patientenkollektiv oder anderer methodischer Limitationen ergehen. Was wohl SMA-Experte Finkel aus Florida dazu sagen würde, der erstmals in seiner Karriere einen Wirkstoff zur Verfügung hat, mit dem er Patienten behandeln kann?

Die Orphan-Drug-Regelung funktioniert. Und das muss sie weiterhin, denn je nach Zählart gibt es immer noch 6 bis 8.000 seltene Erkrankungen, für die es keine Therapien gibt. Sie zu ändern gleicht einer Operation am gesunden Patienten.

Weiterführende Links:

https://www.vfa.de/de/arzneimittel-forschung/woran-wir-forschen/orphan-drugs-medikamente-gegen-seltene-erkrankungen.html

https://pharma-fakten.de/news/details/326-kommentar-zu-orphan-drugs/

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