Ein großer Erfolg – 238 neue Kindermedikamente seit 2007. Foto: CC0 (Stencil)
Ein großer Erfolg – 238 neue Kindermedikamente seit 2007. Foto: CC0 (Stencil)

Zehn Jahre Forschung für Kinder

Noch nie zuvor konnten so viele kleine Patienten mit Medikamenten behandelt werden, die speziell für ihre Altersgruppe zugelassen sind. Zehn Jahre nach Inkrafttreten der Kinderarzneimittel-Verordnung zieht die europäische Arzneimittelbehörde EMA eine überwiegend positive Bilanz. Doch an manchen Stellen gibt es Nachholbedarf.

238 neue Medikamente und 39 kindgerechte Darreichungsformen sind laut einem neuen EMA-Bericht zwischen den Jahren 2007 und 2015 in der EU für die Behandlung von Kindern zugelassen worden. Allein im zentralisierten Verfahren hat sich die Zahl an pädiatrischen Zulassungen zuletzt verdoppelt: Waren in den letzten drei Jahren vor der Kinderarzneimittel-Verordnung (2004-2006) nur 31 Kinder-Medikamente neu zugelassen worden, so ist zwischen 2012 und 2014 diese Zahl auf 68 gestiegen.

 

Ein Beispiel: Vor 2007 gab es für Kinder kaum zugelassene Therapien zur Behandlung rheumatischer Erkrankungen. In weniger als einem Jahrzehnt sind nun acht neue Indikationen auf den Markt gekommen – weil mehr geforscht wird. 2006 lag der Anteil an Studien, in denen Kinder involviert waren, noch bei 9,3 Prozent, 2015 immerhin schon bei 11,5. Das ist das Ergebnis zehn Jahre nach Inkrafttreten der EU-Verordnung über Kinderarzneimittel.

Seit 2007 verpflichtet diese die Pharmaunternehmen dazu, neue Arzneimittel immer auch für die Anwendung bei Kindern zu testen. Die Hersteller müssen einen pädiatrischen Prüfplan (Paediatric Investigation Plan, PIP) einreichen, der das geplante Entwicklungsprogramm darlegt. Der Pädiatrieausschuss der EMA genehmigt ihn – oder erteilt in Ausnahmefällen eine Befreiung von der pädiatrischen Prüfung, z.B., wenn die Erkrankung bei Kindern nicht vorkommt. Als Entschädigung für den zusätzlichen Aufwand erhalten die Unternehmen einen um sechs Monate verlängerten Unterlagenschutz. So ist ihnen über einen größeren Zeitraum eine exklusive Vermarktung des Arzneimittels möglich. Mit Blick auf die Zahlen resümiert die EMA: „Die Kinderarzneimittel-Verordnung hatte einen äußerst positiven Einfluss auf die Entwicklung von Kinderarzneimitteln“. Pädiatrische Fragestellungen seien zu einem integralen Bestandteil pharmazeutischer Entwicklung in der EU geworden.

Das war nicht immer so: Bis 2007 profitierten Kinder als „therapeutische Waisen“ kaum vom medizinischen Fortschritt. Laut des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie (BPI) waren über die Hälfte aller Medikamente, die Kindern zur Verfügung gestellt wurden, nicht für ihre Altersgruppe zugelassen oder geprüft. Derartige „Off Label“-Verordnungen sind gefährlich. Denn Kinder sind, medizinisch gesehen, nicht einfach Erwachsene in Miniaturausgabe. In ihrer Anatomie oder der Ausreifung der inneren Organe unterscheiden sie sich von ihren Eltern. Trotzdem war es gängiger Usus, ihnen dieselben Medikamente zu verschreiben – nur in reduzierter Dosierung. Arzneimittel, die genau auf die Bedürfnisse des kindlichen Organismus zugeschnitten sind, gab es kaum.

Zu wenig kinderspezifische Forschung

Ist die EU-Verordnung also ein voller Erfolg? Leider nicht uneingeschränkt: Denn sie hat nichts daran geändert, dass die Arzneimittelentwicklung primär an den Erwachsenen orientiert ist. Zwar wird die Mehrheit der Arzneimittel für die Großen nun auch für die Kleinen geprüft; aber Forschungen, die ausschließlich auf Kinder abzielen, sind weiterhin rar.

Ein Beispiel ist die pädiatrische Onkologie: „Nur für 14 aller Anti-Krebs-Medikamente wurden PIPs beantragt, um Krebsformen zu untersuchen, die sich auf Kinder beschränken und an erwachsenen Patienten nicht erforscht werden“, stellt die EMA fest. Dasselbe gilt für sogenannte PUMAs (Paediatric use marketing authorisation): Laut der EU-Verordnung werden Pharmaunternehmen nicht nur zu pädiatrischen Studien bei neuen Arzneimitteln verpflichtet; sie können zudem freiwillig schon zugelassene, nicht mehr patentgeschützte Medikamente für die pädiatrische Nutzung prüfen und weiterentwickeln. Das ist ein guter Gedanke: Kinder könnten so von bereits bewährten Therapien profitieren. Als Anreiz erhalten die Hersteller einen zehnjährigen Unterlagenschutz für das neu zugelassene Kinderarzneimittel. Allerdings wurden bisher nur drei solcher PUMAs vergeben.

Warum ist das so? Pharmazeutische Forschung für Kinder ist extrem aufwändig und teuer: Nicht nur, weil es weniger Kinder als Erwachsene gibt – sie werden zum Glück auch seltener krank. Dies macht es zum einen besonders schwierig, genügend Probanden für klinische Studien zu finden. Zum anderen stellt das die Pharmaunternehmen vor eine wirtschaftliche Herausforderung.

Nun sind die Gesundheitssysteme gefragt. Der BPI hat bereits 2014 in einem Positionspapier gefordert, dass PUMA-Medikamenten automatisch ein Zusatznutzen anerkannt wird, „da Produkte aus dem off-label use in ein behördlich geprüftes, zugelassenes Kinderarzneimittel überführt werden.“ Ist ein Wirkstoff in einem für Kinder zugelassenen Medikament verfügbar, dürfe nur dieses Arzneimittel verwendet werden. Zudem sollten PUMA-Medikamente nicht den bestehenden Festbeträgen zugeordnet werden. Bisher unterliegen die Hersteller diesen gedeckelten Preisen – und erhalten daher für ein neu zugelassenes Kindermedikament nicht mehr Geld als für das bereits existierende, generische Arzneimittel für Erwachsene.

238 neue Kindermedikamente seit 2007 – das ist ein großer Erfolg. Pharmazeutische Forschung, die ausschließlich auf Kinder abzielt, hat es jedoch noch sehr schwer. Um sie zu fördern, müssen dringend geeignete politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen geschaffen werden. Ansonsten bleiben die kleinsten Patienten auch weiterhin „therapeutische Waisen“.  

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