Stellen Sie sich vor  pro Tag stürzt in Deutschland ein mittelgroßes Passagierflugzeug ab – und niemand bemerkt es. So in etwa verhält es sich mit der Sepsis: Täglich sterben hierzulande 162 Menschen daran. Foto: CC0 (Stencil)
Stellen Sie sich vor pro Tag stürzt in Deutschland ein mittelgroßes Passagierflugzeug ab – und niemand bemerkt es. So in etwa verhält es sich mit der Sepsis: Täglich sterben hierzulande 162 Menschen daran. Foto: CC0 (Stencil)

Neue Medikamente fallen nicht vom Himmel

Der Nutzen innovativer Medikamente wird immer wieder in Frage gestellt. Dabei zeigt sich der medizinische Fortschritt an jeder Ecke. Er ist hart erkämpft – und Ergebnis jahrzehntelanger Forschung sowie vielzähliger gescheiterter Versuche.

Ein Fläschchen – unscheinbar nur. Es könnte Wasser sein. Es ist ein bescheidener Auftritt für etwas, das gerade unter dem Fachbegriff „PD-1-Hemmer“ die Behandlung von Krebs revolutioniert. Der Name – PD für Programmed Death – steht in merkwürdigem Gegensatz dazu, was das für Patienten bedeutet. Ein PD-1-Hemmer verstärkt die Kraft des Immunsystems gegen Tumore – ein Immun-Turbo sozusagen. Die Überlebensraten bei schwierigen Karzinomen wie dem schwarzen Hautkrebs oder Lungenkrebs entwickeln sich zurzeit deutlich nach oben. Krebsforscher schätzen vor allem die Langzeitwirkung: „Das ist in der Onkologie neu und beeindruckend“, sagt Prof. Dirk Jäger vom Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen Heidelberg gegenüber Pharma Fakten.

Onkologen wie er sind froh, dass die PD-1-Hemmer kommen. Nicht weil sie das Allheilwundermittel wären. Sondern weil sie eine weitere Waffe im Arsenal gegen die Vielzahl von Krebstypen sind. Denn wer komplexe Erkrankungen bekämpfen will, braucht genau das: Eine Hand voll Möglichkeiten – Therapieoptionen eben. Ein weiterer Hoffnungsträger ist daher momentan die CAR-T-Therapie. Mit diesem Ansatz sollen die eigenen Immunzellen mit Hilfe gentechnischer Veränderung die Fähigkeit erlangen, selbst den Krebs zu besiegen. Eine erste Therapie steht in Europa kurz vor der Zulassung. Weitere sind in der Entwicklung.

Das wachsende Arsenal an Therapieoptionen ist ein Grund dafür, dass Wissenschaftler heute sagen: Binnen einer Generation werden wir die meisten Krebsarten entweder heilen oder zumindest kontrollieren können. In Deutschland wird darüber nicht gesprochen. In Deutschland findet man Krebsmedikamente vor allem teuer.

Die Suche nach der Nadel im Heuhaufen

Dabei fällt der Fortschritt nicht vom Himmel. Gerade in der Onkologie führen sehr viele Wege zum Ziel. Sie zu finden ist die Suche nach der sehr kleinen Nadel im sehr großen Heuhaufen.

Ähnlich anspruchsvoll ist die Forschung im Bereich der Neurologie. Gegen Alzheimer ist bisher kein Kraut gewachsen. Von hundert Versuchen, das zu ändern, sind 99 danebengegangen. Heute verfügbare Medikamente stimulieren die Hirnleistung; die Krankheit verzögern kann keines von ihnen. Geradezu gebannt starrt die Weltgemeinschaft auf eine Infusionslösung, die gerade getestet wird. Wieder so ein unscheinbares Fläschchen. Der darin enthaltene Antikörper soll das Zeug haben, das Fortschreiten der Erkrankung zumindest zu verlangsamen. Das benötigte Investment: Mindestens eine Milliarde Euro, wahrscheinlich mehr. Es ist eine große Wette – und eine hochriskante dazu. Warum Pharmaunternehmen sie annehmen? Weil sie glauben, dass da ein Weg ist. Weil sie das Wissen und die Expertise haben, sagen zu können: Das könnte klappen. Ohne diesen Ehrgeiz würden wir viele Krankheiten heute nicht so gut behandeln können – Krankheiten wie Hepatitis C.

Die Fortschritte sind überall zu sehen

Die neue Generation von direkt wirkenden, antiviralen Medikamenten hat die Behandlung der virusbedingten Leberentzündung grundlegend verändert. Dabei sehen die Präparate ähnlich unspektakulär aus wie ein PD-1-Hemmer – nur in Tabletten-Form. Die Farbe: Ein blasses Orange. Oder gelblich, je nach Hersteller. Ein paar Gramm. Doch in diesen Pillen steckt das Wissen, wie man in wenigen Wochen von Hepatitis C geheilt werden kann. In ihnen steckt die Arbeit ganzer Forschergenerationen aus Universitäten, Kliniken und Laboren forschender Pharmaunternehmen. Durch sie lässt sich die Krankheit in die Geschichtsbücher der Medizin verbannen. Was ist das wert?

Die Fortschritte sind überall zu sehen: HIV? Von einer garantiert tödlichen zu einer chronischen Erkrankung. Multiple Sklerose? Für viele Menschen war das vor 25 Jahren geradezu eine Rollstuhl-Garantie. Heute ist es eine immer noch schwere, aber ständig besser zu behandelnde Krankheit. Akute Leukämien? Die Überlebensraten, so Prof. Dietger Niederwieser, zeigen nur einen Trend: Nach oben. „Das ist nahezu eine Verdopplung in einem Beobachtungszeitraum von 15 Jahren“, sagt der Forscher im Pharma Fakten-Interview. Todesfälle als Folge einer Herz-Kreislauf-Erkrankung? Seit 1980 ein Drittel runter. Die Sterblichkeit durch Krebs? Seit 1993 ein Viertel runter. Von zurückgedrängten Krankheiten gar nicht zu sprechen: Gegen 27 Infektionskrankheiten können wir uns heute impfen lassen. Die Liste des Fortschritts ist lang.

 

F&E: Scheitern ist Teil des Erfolges

Neue Medikamente sind das Ergebnis jahrzehntelanger Forschung und der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Ärzten, Kliniken und der forschenden Pharmaindustrie. Letztere trägt das unternehmerische Risiko allein, wenn etwas schiefgeht. Das passiert öfter als die meisten denken: Scheitern gehört bei der Entwicklung von Medikamenten einfach dazu. Rund 5.000 bis 10.000 Substanzen stehen am Anfang eines Arzneimittelprojektes – nur eine davon wird am Ende eine Zulassung bekommen.

Aber „scheitern“ ist eigentlich der falsche Begriff: Denn gescheiterte klinische Studien sind eine Fundgrube für neue Ansätze. So ist es auch bei einer großen HIV-Impfstoffstudie, auf die AIDS-Forscher ihre Hoffnung setzen. Die Vorgeschichte: Eine ganze Serie „gescheiterter“ Studien. Wenn es funktioniert, wäre das der Anfang vom Ende der HIV-Epidemie. Es wäre von „Unmöglich, einen HIV-Impfstoff zu entwickeln“ zu einem Impfstoff in rund 25 Jahren.

Dieser Artikel erschien in leicht abgeänderter Form am 26.08.2017 im Rahmen einer zwölfseitigen Sonderbeilage in der Abonnenten-Auflage des FOCUS. Die gesamte Ausgabe mit dem Titel „Medizinische Grenzen überwinden – Fortschritt durch Forschung: So arbeitet die Pharmaindustrie“ finden Sie hier.

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