„Conditional Approvals“ werden unter strengen Auflagen erteilt  um Patienten  die an schweren Erkrankungen leiden und für die es keine geeignete Behandlung gibt  früheren Zugang zu neuen Arzneimitteln zu ermöglichen. Foto: © iStock.com/fizkes
„Conditional Approvals“ werden unter strengen Auflagen erteilt um Patienten die an schweren Erkrankungen leiden und für die es keine geeignete Behandlung gibt früheren Zugang zu neuen Arzneimitteln zu ermöglichen. Foto: © iStock.com/fizkes

Wichtige Debatte – falsch geführt.

Wenn es um die Preise von Arzneimitteln geht, steht die Pharmaindustrie unter Dauerbeschuss. Ein Interview über die Zusammenhänge von Forschungskosten, Arzneimittelpreisen und dem Nutzen von Medikamenten.
Foto: ©Stefan Gijssels
Foto: ©Stefan Gijssels

Stefan Gijssels ist Gründer der Beratungsfirma Seboio. Er hat viele Jahre für das Pharmaunternehmen Janssen sowie für verschiedene Beratungsunternehmen gearbeitet. Im Interview mit Pharma Fakten erklärt der Kommunikationsexperte, warum er die Debatte über Arzneimittelpreise zwar für wichtig, aber für falsch geführt hält.

Mit Blick auf die Kritik an ihren Preisen verweisen forschende Pharmaunternehmen auch auf die hohen Investitionen in Forschung & Entwicklung (F&E). Kritiker halten diese Kosten hingegen für überschätzt. Was stimmt?

Stefan Gijssels: Tatsache ist: Die Kosten für F&E sind in den vergangenen zwanzig Jahren enorm gestiegen. Das liegt unter anderem daran, dass die Anforderungen an die klinischen Studien ständig zunehmen.

Je mehr wir uns entwickeln, je mehr Technologie wir einsetzen können, je mehr Diagnostik uns zur Verfügung steht, desto mehr Tests gibt es in klinischen Studien. Einfach, weil es immer besser ist, mehr Daten zu haben als weniger. Ein weiterer Grund ist, dass die Zahl der Patienten in klinischen Studien zunimmt, weil jede Subpopulation einzeln untersucht wird und weil immer mehr Daten aus verschiedenen Regionen der Welt erhoben werden. Deshalb hat auch die Zahl der Studienzentren pro Studie signifikant zugenommen. Wenn man das alles zusammennimmt, sind die Kosten für klinische Studien fast exponentiell gestiegen.

Und das führt dann automatisch zu höheren Preisen?

Gijssels: Unternehmen müssen ihre Kosten decken – das ist klar. Und sie müssen profitabel sein. Auch klar. Deshalb spielen die Kosten für Forschung und Entwicklung natürlich eine Rolle. Aber der definierende Faktor für die Preisgestaltung von Medikamenten ist vor allem der Wert, den ein Medikament darstellt. Das kann man am besten zeigen, wenn man es von der „falschen“ Seite aufzäumt: Wenn ein Unternehmen ein Arzneimittel auf den Markt bringt, für dessen Entwicklung es ein Vermögen ausgegeben hat, das aber nicht den Patientennutzen zeigt, den man sich erwartet hat, wird es auch keinen hohen Preis verlangen können. Jeder würde dem zustimmen: Nutzen bestimmt den Preis, nicht die Kosten. Die nationalen Institute für die Bewertung von Gesundheitsnutzen sollten sich nicht über Entwicklungskosten einzelner Wirkstoffe Gedanken machen. Die Frage müsste sein: Welchen Nutzen hat ein Medikament? Was bringt es dem Patienten? Ist es besser als das, was schon verfügbar ist?

Alles berechtigte Fragen…

Gijssels: Natürlich. Pharmaunternehmen stellen die sich ja auch. Auf der Suche nach dem Preis fließen Faktoren ein wie: Welche Kosten – direkte wie indirekte – verursachen die Erkrankungen? Welcher Mehrwert entsteht durch die neue Therapie? Ist es, wie am Beispiel von Hepatitis C gesehen, ein Durchbruch? Und ja, auch die Forschungskosten spielen bei der Preisbildung eine Rolle, aber eben nicht die, die ihnen zugesprochen wird.

Aber es würde sicher für Transparenz sorgen, wenn man die Entwicklungskosten der einzelnen Medikamente bekannt machen würde. Was ist so schwer daran?

Gijssels: Weil Pharmaforschung so schlichtweg nicht funktioniert. Unternehmen investieren in Technologie, in Wissen, in Grundlagenforschung – in alles, was benötigt wird, um überhaupt forschend aktiv sein zu können. In der frühen Phase der Entwicklung gibt es kein einem bestimmten Wirkstoff zugewiesenes Budget. Das ändert sich erst, wenn ein Molekül in klinischen Studien aufgenommen wird. Und selbst dann muss ich die Kosten berücksichtigen, die entstehen, weil Wirkstoffkandidaten nicht die strengen Hürden nehmen; sprich: scheitern – und das ist immer noch die erdrückende Mehrheit.

Können Sie das belegen?

Gijssels: In der Fachzeitschrift JAMA wurde vor kurzem eine Studie vorgelegt, die die Entwicklung eines Krebsmedikamentes auf rund 650 Millionen US-Dollar taxiert. Ich denke, für rund 650 Millionen kann man das machen. Aber es ist nur ein Teil der Wahrheit, denn das sind die Kosten für die Substanz, die es in den Markt geschafft hat. Aber in der Onkologie erreichen das nur rund sechs Prozent der untersuchten Moleküle. Wer also die Kosten seriös berechnen will, muss diese gescheiterten Forschungsprogramme auch mitrechnen – und dann zeigt sich gleich ein ganz anderes Bild. Und dabei sind die Krebsforscher noch vergleichsweise verwöhnt. Bei Alzheimer sind bisher über 99 Prozent der Studien gescheitert – und das, obwohl die Industrie in den vergangenen 20 Jahren rund 42 Milliarden Dollar investiert hat.

Die Autoren der JAMA-Studie haben ihre Ergebnisse so zusammengefasst: Weil die Preispolitik der Pharmaunternehmen unabhängig von den Kosten für F&E sei, könnten die politischen Entscheidungsträger bei den Preisen zügelnd eingreifen – ohne Sorge, dass sie damit Innovationen abwürgen.

Gijssels: Ich halte die Argumentation für gefährlich, denn sie zeigt, dass nicht verstanden wird, wie pharmazeutischen Innovationen finanziert werden. Die Industrie trägt das Risiko dieser Forschung allein – und finanziert es aus den Umsätzen, die sie generiert. Ich behaupte: Halbiere die Preise der Arzneimittel, dann halbierst du auch die F&E-Budgets – mit allen Konsequenzen für die Patienten. Bleiben wir beim Beispiel Alzheimer: Stellen Sie sich vor, Sie gehen zu einer Bank – im Koffer Ihre Idee für ein neues Medikament – und Sie sagen dem Banker: Hey, ich habe da eine super Idee, ich brauche nur eine Milliarde für zehn Jahre und das Risiko zu scheitern ist: 99 Prozent. Jeder einigermaßen normale Mensch würde sein Geld wohl woanders investieren. Das funktioniert nur, wenn der Investor höhere Renditen in Aussicht hat, als wenn er sein Geld bei Coca-Cola anlegt.

Nun ist Alzheimer vielleicht auch ein extremes Beispiel…

Gijssels: Finden Sie? Seit über 30 Jahren suchen Pharmaunternehmen nach einem Impfstoff gegen HIV. Bisher gibt es keinen – und die Forschung geht weiter. Ähnlich die Situation bei Malaria: Über 20 Jahre Forschung, bevor der erste Impfstoff in der Geschichte der Menschheit verimpft werden konnte. Seit 2012 gibt es das erste Medikament gegen Mukovisizidose, das auch die Ursachen bekämpft. Keine öffentliche Behörde hat je in größerem Stile in diese Erkrankung investiert. Ein Unternehmen aus den USA hat es getan – ohne sein Wissen und seine Risikobereitschaft würde heute kein einziger Patient versorgt werden können. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Wird die Debatte über Arzneimittelpreise also falsch geführt?

Gijssels: Ja, das glaube ich. Jedes Mal, wenn ein neues Medikament in einer Indikation auf den Markt kommt, in der es bisher nichts gab – als First-in-Class – gibt es einen öffentlichen Aufschrei. Denken Sie an Hepatitis, denken Sie an HIV, an die ersten Biologika, die Cholesterinsenker. Und heute? Heute leben in Europa viele Millionen Menschen wegen dieser Medikamente. Ich habe das gerade für die Niederlande durchgerechnet: Statine* haben dazu beigetragen, dass es unter Männern 70 Prozent weniger Herzversagen gibt – das entspricht 300.000 Menschen mehr, die heute leben als noch vor 20 Jahren. Oder HIV? Menschen mit HIV haben nur eine Behandlungsmöglichkeit – und das sind Medikamente. In Deutschland können etwa 78.000 HIV-Positive ein normales Leben führen, solange sie ihre Medikamente einnehmen. Das ist absolut fantastisch. Aber vor 20 Jahren gab es wegen der Preise einen öffentlichen Aufschrei. Nun ist aus einer garantiert tödlichen Erkrankung eine chronische geworden – und das zu einem angemessenen Preis. Auch hier: Millionen Menschen sind in Europa heute wegen Pharmazeutika am Leben. Wer einseitig auf die Preisschilder einzelner Arzneimittel schaut, verstellt den Blick auf den Nutzen, den sie schaffen – auch finanziell, für die Gesellschaft. Und er muss mit dem Vorwurf leben, dass er neuen Therapien in der Zukunft das Leben schwermacht.

* Statine: Gruppe von Medikamenten zur Cholesterinsenkung im Blut. Dadurch kann es zu einer Verlangsamung der Arteriosklerose und einer Stabilisierung von Plaques kommen. Sie schützen damit die Blutgefäße.

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